Die Enkel sind nicht eben in Hochform

Mit Hans-Jochen Vogel geht der letzte aus der alten Riege der Sozialdemokraten der Nachkriegszeit/ Die neue Generation übernimmt die Führung einer SPD, die keine überzeugende Opposition ist, sondern eine Partei mit Blessuren  ■ Aus Bonn Tissy Bruns

Der Generationswechsel ist komplett. Nach dem Parteivorsitz geht nun auch der Fraktionsvorsitz in die Hände der „Jüngeren“ in der SPD, die Willy Brandt in den frühen achtziger Jahren zur gründlichen Renovierung der ausgelaugten Partei aufgerufen hatte. Und wieder läuft es anders als gedacht. Nach dem Spektakel um den Parteivorsitz, den Oskar Lafontaine wider Erwarten nicht mehr haben wollte, verließ Vogel auch seinen letzten Posten vorfristig. Nachfolge offen.

Die „Jüngeren“ sind inzwischen alle um die fünfzig, gesetzte Leute, denen Fehler und Schwächen nicht mehr leicht verziehen werden. Die Momentaufnahme des heutigen Tages zeigt sie nicht eben in Hochform. Wer immer das Rennen um den Fraktionsvorsitz macht, die ganz überzeugende Persönlichkeit des Oppositionsführers fehlt. Überhaupt strahlt die Enkelgarde seit Lafontaines ungeordnetem Rückzug an die Saar wenig Lust an „Führung“ aus, weder der Opposition noch — potentiell — der Bundesrepublik. Wer an die Wahlen 1994 denkt, kann sich eine weitere Runde mit der Kohl & Co. schwer vorstellen, eine Regierung mit einem sozialdemokratischen Kanzler aber überhaupt nicht. Welche(r) sollte es auch sein?

In den achtziger Jahren hatten die Sozialdemokraten gleich mehrere Querdenker, Hoffnungsträger, VertreterInnen der neuen Milieus und Lebensstile. Die schmeichelhaften Etiketten gingen en gros an Björn Engholm, Gerhard Schröder, Oskar...

Und während die Union immer nur die eine Rita Süssmuth hatte, profilierten sich im Lager der SPD Herta Däubler-Gmelin, Renate Schmidt, Heidi Wieczorek-Zeul, Ingrid Matthäus-Maier...

Heute fehlt den Modernisierern jeder Glanz. Zwar regieren Schröder, Engholm, Lafontaine, doch wiegt die sozialdemokratische Übermacht in den Ländern die sonstige Schwäche der Opposition nicht auf. Jetzt haben sie das Sagen in der Partei, aber was fangen sie damit an? Von den politischen Ideen scheint kaum mehr übrig als ein gewisses Ambiente.

Kein Wunder, schließlich ist die Rede von Leuten, die, kaum war ihr Werk vollendet, sich damit abfinden mußten, daß es vorerst vergeblich war. Bis 1989 haben die Enkel an einer SPD für eine modernisierte, westliche Bundesrepublik gearbeitet — und fanden sich plötzlich in Deutschland wieder.

Brandt, Schmidt und Vogel konnten ihr politisches Leben auf den Grundlagen aufbauen, die sich mit dem Wort „Godesberg“ verbinden. Vor allem Wehner hat sie gezimmert, als er die SPD auf den Boden der sozialen Marktwirtschaft und Westbindung einschließlich Nato zog. Die Generation um Engholm und Lafontaine muß sich ihre Fundamente, ihr „Godesberg“ zweimal schaffen, nicht im Sinne eines Parteiprogramms, sondern einer Grundeinstellung zum Land, zur Gesellschaft, zur Welt.

Das erste „Godesberg“ der Enkel war 1989 fertig. Die Suche der SPD hatte sich zu einer umrissenen Botschaft, einem neuen Reformangebot verdichtet. Lafontaine, als Ideenträger allen voran, interessierte wenig, wo es nach links oder rechts ging. Er präsentierte als Kanzlerkandidat innenpolitisch die ökologische Marktwirtschaft, außenpolitisch die gemeinsame Sicherheit und eine SPD, die sozial, kulturell und machtpolitisch, also hinsichtlich der Koalitionsfragen, offener war als vorher. Im Bundestagswahlkampf hieß das ganze: Fortschritt 90.

Ökologische Marktwirtschaft: Die SPD definierte ihre zentrale gesellschaftliche Aufgabe, nämlich möglichst großes Wachstum möglichst gerecht zu verteilen, um in eine Sozialpartnerschaft neuer Art. Statt des alten Liedes vom Verteilen sollte das neue vom Teilen angestimmt werden.

Höhere Preise für Energie und Benzin sind keine Reformen, die den Konsumenten spontan begeistern. Auch deshalb waren diese Absichten mutig. Ob sie, nur zum Beispiel, die Autoindustrie kalt gelassen hätten, diese Frage wird in absehbarer Zeit leider keiner praktischen Nagelprobe unterzogen werden. In der Bundesrepublik von 1991 (und der folgenden Jahre) artikuliert fast ein Viertel der Bevölkerung Nachholbedarf an Konsumgütern, Autos, Dienstleistungen. Der Abschied vom Wachtstumsdenken scheint nicht zeitgemäß. Was in der alten, reichen Bundesrepublik schon als unpopulär galt, hat in der neuen überhaupt keinen Boden.

Außenpolitisch kann die SPD vorfristige Planerfüllung melden. Die auf den Ost-West-Konflikt bezogene Konzeption der gemeinsamen Sicherheit ist zum Glück überholt. Zwar bleiben Grundgedanken daraus tauglich, wie etwa die Maxime, den militärischen Faktor zugunsten des politischen zurückzudrängen und stets nach den zivilen Formen der Konfliktbewältigung zu suchen. Aber ob das für die 90er Jahre reicht? Außenpoltik wird für die Wirtschaftsmacht Deutschland Nord- Süd-Politik und muß den schwierigen osteuropäischen Prozeß regulieren helfen. Die langwierige UNO- Blauhelm-Debatte der SPD wirft ein Licht auf das Dilemma. Wird der oder die nächste OppositionsführerIn der SPD im Bundestag eine Rede halten müssen, die eine ähnliche strategische Reichweite hat wie Wehners berühmtes Bekenntnis zu Nato und Westbindung im Jahre 1960?

Auch wenn alle hoffen und so tun, als ob das neue Deutschland bald wie eine erweiterte Bundesrepublik dastehen wird, sozial und kuturell kann nicht wieder an der Republik von 1989 angeknüpft werden. Nicht nur, daß die SPD ihre Wahlanalysen und demoskopischen Untersuchungen neu in Auftrag geben kann. Worte wie Frauenemanzipation, Arbeitnehmerschaft, Wiedervereinigung haben in westdeutschen Ohren einen anderen Klang als in ostdeutschen. Die Enkel sind westdeutsch, mehr als ihre Vorgänger und mehr als ihre politischen Kontrahenten aus den Regierungsparteien.

Das neue sozialdemokratische Führungspersonal konnte aus dem Jahr 1990 nicht als strahlender Sieger, sondern nur mit Blessuren hervorgehen. Zwischen ihnen und ihren Ziehvätern wurde eine Kluft sichtbar: Die einen erwiesen sich als Nachkriegs-, die anderen als Gesamtdeutsche. Brandt verbreitete kaum anders als seine Altersgefährten aus anderen Parteien eine Atmosphäre, in der Bekenntnisse zur Wiedervereinigung, zu Deutschland eingefordert wurden.

Ob diese Haltung geeigneter ist, die deutsch-deutsche Integration zu bewerkstelligen, sollte kräftig bezweifelt werden. Die deutsch-deutsche Erfolgsgeschichte der Union, die ihre nicht weniger west-orientierten Modernisierer 1989 gerade kaltgestellt hatte, hat inzwischen große Risse. Und immerhin verlor Willy Brandt die erste wichtige Wahl von 1990: Sein nationales Pathos trug bei der März-Wahl zur DDR- Volkskammer zum Triumph der Konservativen und zur Niederlage der SPD bei. Lafontaines Niederlage bei der ersten gesamtdeutschen Wahl im Dezember aber traumatisierte die Partei.

Das Kapitel sozialdemokratische Geschichte, daß die Modernisierer der SPD geschrieben haben, gehört in der vereinigten Bundesrepublik zur Vergangenheit. Das nüchtern anzuerkennen, wäre die erste Voraussetzung, um die Bestände dieser Zeit für die neue Republik fruchtbar zu machen. Denn: verhält es sich in Wirklichkeit nicht so, daß die Nachkriegsdeutschen in West und Ost, die die Fremdheit und die Schwierigkeiten der west-östlichen Integration spüren, dem gegenwärtigen Deutschland näher stehen als die verbliebenen Gesamtdeutschen aller Fraktionen?