: Die neue Dissidenz
Über den „Carrefour des littératures européennes“ in Straßburg ■ Von Thierry Chervel
Authentische Madames Verdurin saßen im Publikum, als Joseph Brodsky seinen Vortrag hielt, stützten die heiße, pochende Schläfe in die Hand, lauschten mit geschlossenen Augen, daß die Wahrheit ganz in sie einging, verblühte, unordentliche Schönheiten auch, in wilder Lockenpracht, die ihren Gatten angelegentlich den Nacken massierten — und durch die verbliebenen Haarkränze dieser Gatten schien ebenfalls noch nie ein Kamm gefahren zu sein. Sie waren Verächter alles Äußerlichen, die sich nur widerwillig in ein Publikum begaben und sonst wohl in überheizten Stuben dem Wort nachspürten, dem unergründlich wesenden.
Poeten haben halt ein besonderes Publikum. Dabei war Brodskys Hommage auf den jugoslawischen Schriftsteller Danilo Kis einer der nüchternsten Beiträge des „Carrefour", das am letzten Wochenende stattfand, einer der wenigen auch, die konkret von Literatur handelten. Aber daß die Schriftsteller kaum vom Eigentlichen redeten, störte nicht — es wäre vielleicht sogar unangebracht gewesen. Nachdem die eine Grenze, die alles so einfach machte, glücklich überwunden ist und Europa in lauter kleine, teils entsetzlich scharfe Splitter zerfiel — lauter kleine Nationalismen, Rassismen, Integrismen, Klerikalismen, Xenophobien — war die Frage schon richtig gestellt: "Wo sind die europäischen Grenzen denn jetzt?" Es war richtig, sie an Intellektuelle und vor allem an Schriftsteller zu stellen, denn sie sind es, die aus ihren Ländern zu erzählen wissen.
Natürlich hatten sie keine Antwort, aber sie erzählten und diskutierten, und so war wenigstens das Palaver grenzenlos. Auch das ist richtig so — es versteht sich nicht mehr von selbst, daß ein serbischer und ein kroatischer Autor miteinander reden, wie Stanco Cerovic und Predrag Matvejevic auf dem "Carrefour".
Gibt es Europa überhaupt?
Die grundlegende Paradoxie von "Grenze" benannte Claudio Magris: „Eine Grenze, die wir überschreiten können, ist keine. Ist eine Grenze aber unüberschreitbar, geht sie durch uns hindurch.“ Wo sind die europäischen Grenzen also, seit die eine große verschwunden ist? Zwischen West und Ost, gewiß, aber wo genau — etwa zwischen Kroatien, das westlich wäre, weil es katholisch ist, und Serbien, das östlich wäre, weil es orthodox ist und kyrillisch schreibt, wie ‘Le Monde' neulich vorschlug? Unsinn, sagen Matvejevic und Cerovic. Serbisch und kroatisch sind nicht einmal unterschiedliche Dialekte, sondern ein- und dieselbe Sprache. Zwischen Nord und Süd also — da ist sie sogar besonders scharf, sagt der tunesische Romancier Abdelwahab Meddeb. Aber dann verläuft sie auch schon innerhalb der europäischen Städte, fügt er hinzu, denn trotz aller Abgrenzungen ist Afrika längst nach Norden gewandert. Zwischen Okzident und Orient: Aber die Türkei, so Nedim Gürsel, möchte als ein islamisches Land dennoch zu Europa gezählt werden, und die spanische Kultur wäre ohne arabische und jüdische Einflüsse nicht, was sie ist. Auch Dantes Göttliche Komödie wäre ohne arabische Quellen nicht denkbar: Selbst das Papier, auf das er sie notierte, war gerade erst aus dem Orient gekommen. Zwischen Europa und Amerika liegt ein Ozean, aber gerade diese Ferne, so Paul Virilio, ist trügerisch. In Amerika wurde die Welt zum globalen Dorf gemacht, durch die Medientechnologie wurde eine ganz neue Grenze gezogen: die zwischen der Unmittelbarkeit des Mediums und Raum und Zeit, die im Fernsehen zum Punkt zusammenschnurren. "Grenze ist überall", schließt Virilio.
Gibt es Europa überhaupt? Es läßt sich buchstäblich nicht definieren. Und nicht nur Europa ist eine Bastardin, so die Teilnehmer der Debatte einhellig: ihre Kinder sind es ebenfalls. Aber je unmöglicher sie werden, desto blutiger schließen sich die Nationalismen gegeneinander ab. Die Intellektuellen auf dem Podium: ratlos. "Die Lage ist heikel",sagt einer. Sie können die Welt nicht mehr erklären. Sie haben Autorität und Kriterien verloren. Mit der Mauer ist auch „die Kathedrale von Sartre" — ein Versprecher von Claudio Magris — eingestürzt.
Eine weitere Grenze zog darum der Pariser Soziologe PierreBourdieu, indem er fragte, wer spricht. In einem ungeheuer intelligenten Redeschwall, stockend und mit großer Dringlichkeit vorgetragen, entschuldigte er sich beim Publikum sozusagen eben dafür: daß er redet, und mahnte zur Skepsis vor aller Vermessenheit der Intellektuellen, die in der Vergangenheit Übles angerichtet habe, und zur Selbstvergewisserung. Zugleich aber rief er zur Gründung einer „Internationale der Intellektuellen“ auf, einer Art europäischem Parlament der Denker, in dem strittige Fragen behandelt werden könnten und ein gemeinsames Handeln möglich würde, und er unterzeichnete das „Straßburger Manifest“, in dem die Teilnehmer des Kolloquiums gegen den in Europa grassierenden Rassismus, Nationalismus und Antisemitismus protestierten.
La Mitteleuropa
Aber die Intellektuellen hätten nicht nur Grund zur Selbstkritik, gab Virilio zu Bedenken, sie würden auch zusehends am Reden gehindert. Fernsehmoderatoren regierten heute den öffentlichen Diskurs. Es sei insgesamt eine „Niederlage des Denkens", konstatierte der belgische Schriftsteller Pierre Mertens.
Läßt sich die Geschichte des Marxismus nicht im Nachhinein als eine postmoderne Erzählung lesen, eine jene Konstruktionen, die sich verwirklichen, indem sie sich widerlegen? Das Sein bestimme das Bewußtsein, lautete die Staatslehre in einem System, das vierzig Jahre lang dagegen verstieß, bis sich herausstellte, daß der Überbau die Basis tatsächlich nicht aufDauer kontrollieren konnte. Marx hatte recht!
Der Niederlage des Denkens und seiner Doktrinen entspreche ein „Sieg der Fiktion", so Mertens. Durch Erzählung, Witz, Negation, Ironie, Dekonstruktion — Tugenden der Postmoderne — unterhöhlte die Literatur das Absurdistan im Osten des Westens und die Grenze, die sich durch Mitteleuropa, durch "uns", hindurchzog. 1985 schrieb Milan Kundera seinen Essay L'Occident kidnappé. Lange vor dem Umsturz fand die Wiedervereinigung Europas in Antonin Liehms Zeitschrift ‘Lettre International' statt, deren deutsche Ausgabe von der taz mitbegründet wurde. Eine gewisse Linke, die sich in Organen wie ‘konkret' und ‘titanic' artikuliert, wurde nicht müde, den Mitteleuropa-Begriff zu verspotten, bis der Sturm der Ereignisse auch sie vom Kopf auf die Füße stellte.
Guy Scarpetta und Claudio Magris skizzierten die Geschichte „der Metapher des Protests gegen den Ost-West-Gegensatz“: Verdrängung der historischen Tatsache, daß sich Länder wiePolen, die Tschechoslowakei und Ungarn eher zum Westen als zum Osten gehörig fühlen, dann die Intervention Kunderas und der Dissidenten, Magris' Donau- Buch und die Wien-Mode, schließlich der Mauerfall und die Rückkehr der verdrängten Nationalismen. Wenn es sich heute noch lohne, am Mitteleuropa-Begriff festzuhalten, so Magris, dann wegen der supranationalen Traditionen und Gemeinsamkeiten, die er benenne.
So müßte im Namen „Mitteleuropas“ oder einfach „Europas“ auchgegen die „Nationalrealismen“ gestritten werden, die sich — so der tschechoslowakische Literaturwissenschafter Vladimir Claude Fisera — in den östlichen Literaturen ausbreiten. Diese Nationalrealismen glichen dem sozialistischen Realismus aufsHaar. In fadem und immergleichem Klassizismus werde die je eigene Besonderheit gegen die anderer Völker abgegrenzt, die je eigene Scholle besungen, die Unwiederholbarkeit und Unübersetzbarkeit der je eigenen nationalen Erfahrung behauptet. Ehemalige Opportunisten und Dissidenten mischten sich in diese Tendenz. Solschenizyn, so Fisera, sei heute einer ihrer Repräsentanten.
Postpost
Die Postmoderne sei zu Ende, sagte der Poststrukturalist Jean-Luc Nancy. Wir befänden uns jetzt im Postpost. Wo und was das genau sei, könne niemand sagen. Die Welt habe jedes Bild von sich verloren. Viele der ehemaligen Dissidenten aber finden sich in der Dissidenz wieder. „Wir haben das Selbstbestimmungsrecht gefordert und Nationalismen bekommen“, resümierte Matvejevic und rief zu einer „neuen Dissidenz“ europäischer Intellektueller auf. Zwei Punkte, auf die sich Bourdieus „Parlament der Intellektuellen“, das eines von Dissidenten wäre, einigen müßte, benannte der portugiesische Essayist Eduardo Lourenco: Die Morddrohung gegen Rushdie sei niemals hinzunehmen, gegen sie müsse fortwährend protestiert werden. Das gleiche gelte für den entfesselten Nationalismus in Jugoslawien und anderswo.
Aber Pierre Mertens benannte ein schreckliches Dilemma: Das Wort der Dissidenten hatte im Samisdat noch Gewicht — im Postpost droht es einfach verschluckt zu werden. Wo soll sich die „neue Dissidenz“ äußern, außer in der ‘Lettre International'? In der taz.
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