Neuer Start mit großen Plänen

■ Das »Theater der Freundschaft« mit neuem Konzept und dem »Familien-Herbst-Paket«

Sieben Premieren in vier Tagen — so eindrucksvoll meldet sich das Theater der Freundschaft (TdF) zur Winterspielzeit zurück. Das größte deutsche Kinder- und Jugendtheater hat allen Grund, mit seinem »Familien-Herbst-Paket« spektakulär an die Öffentlichkeit zu gehen: Nach der Wende schlug sich das Haus ein Jahr mehr schlecht als recht ohne künstlerische Leitung durch. Das Repertoire dünnte aus (circa 20 Inszenierungen sind notwendig, damit der Vorstellungszyklus funktioniert), die Zusammenarbeit im Haus war gestört und die Stammzuschauer blieben allmählich aus.

Seit Anfang des Jahres ist das TdF wieder in festen Händen. Der neue Intendant Manuel Schöbel sieht sich großen Problemen gegenüber. Der Haushalt 1992 ist zwar bestätigt, und das in der gleichen Größenordnung wie dieses Jahr. Nur, was sich da oberflächlich so gut anhört, sieht in konkreten Zahlen ganz anders aus. Für den Inszenierungsetat (also die gesamten künstlerischen Kosten der Produktionen) zum Beispiel stehen Schöbel für das gesamte Jahr schlappe 400.000 Mark zur Verfügung. Das reicht bei weitem nicht für 15 geplante Inszenierungen und 30 festangestellte Schauspieler/innen) plus acht Musikern, die beschäftigt werden wollen.

Zudem sind die Zuschauerzahlen auch nicht optimal. Nach einer völligen Flaute im April erreichte das TdF zum Ende der Spielzeit respektable 90 Prozent Platzausnutzung — allerdings nur an Wochentagen. Abends und am Wochenende bleibt der Saal weitgehend leer. Unter der Konkurrenz der großen Theater, sprich, der Theater für »Erwachsene«, leidet speziell das Jugendtheater. Das mag am bisherigen Stückangebot (und zwar nicht nur dem des TdF) liegen. Eine fließende Grenze zwischen Erwachsenem- und Jugendtheater existiert so gut wie gar nicht, Jugendtheater bleibt Jugendtheater und damit unattraktiv für die Zwischengeneration. Die wandert dann ab zu den »Großen«. Das soll sich nun ändern: Ästhetisch und inhaltlich will das TdF weg von pädagogischem Zeigefingertheater und einen Übergang statt aprupter Zweiteilung schaffen. Für die Jüngeren bleiben natürlich die Tagesvorstellungen erhalten.

Um die alten Kontakte zu Schulen zu reaktivieren und neue auch im Westteil Berlins zu schaffen, tauscht sich das TdF mit Kollegen aus. Zusammen mit dem Grips-Theater, der Roten Grütze und der Spielwerkstatt verschickt das Theater ein Projektpapier an Schulen, um für seine Arbeit zu werben. Außerdem ist das TdF neues Mitglied in der Besucherorganisation »Theater der Schulen«, die staatlich gefördert verbilligte Eintrittskarten für Schüler verkauft. Da es für »Ost-Schüler« jedoch keine nochmalige Ermäßigung gibt, ist — Ironie des Vereinigungsalltags — eine Theaterkarte, die direkt an der Kasse des TdFs gekauft wird, meistens billiger als die vom Theater der Schulen, dessen Preise am Westniveau orientiert sind.

Bis zum Dezember jedenfalls müssen die Abende und Wochenenden besser laufen, sonst ist das Konzept nicht durchzuhalten. Das Familien-Herbst-Paket ist ein Anfang: neue, gegenwartsbezogene Stücke und auch Klassiker — ein interessantes und vielseitiges Programm, an dem das ganze Ensemble teilhaben kann.

Den Auftakt bildete eine deutsche Erstaufführung. Grenzland von Staffan Götestam. Zwischen Leben und Tod, zwischen Lüge und Wahrheit befindet sich das Grenzland. Mit dem muß sich die zweiundzwanzigjährige Carola auseinandersetzen. Sie lebt in einer Entziehungsanstalt, hat früher gefixt und ist HIV-positiv. Nach vier Monaten reißt sie aus, um zu ihrer Familie zurückzukehren und dort zu sterben. Sie wird jedoch nicht gerade freundlich aufgenommen. Ihre geschiedene Mutter Eva, selbst alkohol- und tablettenabhängig, hat Angst vor Carola und deren Krankheit. Die jüngere Schwester Lisa hält zunächst zur Mutter; nur Minna, die kleinste, freut sich auf Carola, darf aber nicht zu ihr. Carola wird zurückgeschickt und stirbt in der Anstalt. Die vordergründig »heile« Welt der Familie zerbricht, als Lisa beginnt, Fragen über das Verhalten ihrer Mutter zu stellen.

Staffan Götestams Grenzland vermittelt keine eindeutige Botschaft, keine »Moral von der Geschichte«. Ihm geht es vielmehr um die psychologischen Strukturen seiner Figuren. Alice Miller hat ihn dabei grundlegend beeinflußt. Ihre These, daß sich bestimmte Verhaltensmuster von Generation zu Generation übertragen, sofern sie nicht frühzeitig erkannt und analysiert werden, trifft besonders auf die Mutter im Stück zu. Von ihrer eigenen Mutter nicht geliebt, ist sie unfähig, sich selbst oder ihren Kindern positive Gefühle entgegenzubringen. Der Wahrheit kann sie nicht ins Gesicht sehen, sie flüchtet in Tabletten, Alkohol und hohle Zuneigungsbekundungen. Carola ist ihr in vielen Reaktionen ähnlicher, als sie wahrhaben möchte. Der gleiche Griff zur Flasche, dieselben Verdrängungsmechanismen führen, statt zum Verständnis, zur Ablehnung der jeweils anderen Person. Lisa durchschaut — zumindest zum Teil — die vorhandenen Strukturen.

Bei dieser eindrucksvollen Erstaufführung kooperiert zum ersten Mal ein westdeutsches Regieteam mit Schauspielern des Theaters der Freundschaft. Regisseur Jürgen Zielinski legt keinen Wert auf bombastische Inszenierungsmätzchen. Die glaubwürdige Darstellung der einzelnen Rollen ist ihm wichtiger. Trotzdem wird auf untermalende und verfremdende Effekte nicht verzichtet. Das Bühnenbild von Stefan Ahrens übersetzt die Zerrissenheit der Protagonisten ins Bildliche: auf der linken Bühnenseite herrscht sterile Einbauküchenatmosphäre, rechts ragen zerklüftete, gebirgsähnliche Stellwände in den Bühnenhimmel. Ähnlich spiegelt auch die Musik die jeweiligen Gefühlslagen wieder: Die Komponisten Thomas Keller und Matthias Witting zerstören Chopins Regentropfen-Präludium im Verlauf des Stückes. Was anfangs noch so harmonisch klingt, endet in kaum erträglichen Mißtönen.

Eine großartige Inszenierung mit vier Schauspielerinnen, denen man jedes Wort glaubt, die den Zuschauer ohne Mühen in ihre Geschichte verstricken. Und ein gelungener Anfang für das neue Konzept im Theater der Freundschaft. Diese Produktion schlägt eine Brücke zwischen »Nur«- Jugendtheater und »richtigem« Theater. Eine Aufführung, die sicherlich auch »Stadttheater« trainierte Zuschauer nicht langweilt. Anja Poschen

Grenzland am 19.11., 19 Uhr, 29.11. und 20.12., 20 Uhr im Theater der Freundschaft, Parkaue/ Hans-Rodenberg-Platz 1, Berlin- Lichtenberg.