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Vier Premieren an zwei Tagen

■ »Winterschlaf«, »Amphitrion«, »Aufruhr in Schnauzhaltersheim« und »Prinzessin Lena« im Theater der Freundschaft

Mit einer deutschsprachigen Erstaufführung und einem Klassiker geht das Theater der Freundschaft in die zweite Runde seines komprimierten FamilienHerbstPaketes. Beide Stücke thematisieren auf unterschiedliche Art und Weise das Finden der eigenen Identität: Winterschlaf von der Niederländerin Heleen Verburg richtet sich an Kids ab 9 Jahren (und wird fast zeitgleich mit dem Theater der Jugend München erstaufgeführt), Amphitrion, ausnahmsweise nicht der von Kleist, sondern die Molière-Fassung, ist für Menschen ab 15.

Schon vor der Aufführung werden die Zuschauer in den Winterschlaf eingestimmt: Statt den Theaterraum wie üblich einfach zu betreten, muß man sich zu fünft in eine schummrig- schwarze Kabine quetschen. Die entpuppt sich als imaginärer Fahrstuhl mit dazugehöriger »Pilotin«. Das Gefährt ruckelt und zuckelt, auf einer Leuchtanzeige erkennt man das erreichte Stockwerk, dann bleibt der Fahrstuhl stecken, und endlich, nach Stock 365, erreicht der Zuschauer sein Ziel — »Höhle«. In gespenstisch- grünes Licht getaucht, wartet er auf die Geschichte von Jaap und ihren Eltern.

Die Familie lebt in einer »Wohnung«, die mit ihren rostroten Wänden und bunten Sprenkeln darauf an eine Mischung aus Weltraum und unterirdischen Gesteinsschichten erinnert. Ein Fenster gibt es nicht, eine Tür schon gar nicht. Die Eltern möchten Jaap vor der Außenwelt abschirmen, sie soll nur für Mutter und Vater da sein und möglichst nicht erwachsen werden. Die Zeit in der Höhle vertreiben sie sich mit Videogucken und — vor allem — mit Schlafen. Aber natürlich wächst Jaap, panisch verfolgt von den Blicken ihrer Eltern, die ihr schließlich sogar das Essen verbieten. Jaap gibt keinen Ton mehr von sich, denn »wo nichts mehr reingeht, kann auch nichts rauskommen«. Mit ihrem Meerschweinchen Bronchitus an der Seite läßt Jaap sich in Sehnsüchte und Phantasien fallen. Ein Mädchen begegnet ihr, das ihr von »draußen« erzählt und Obst und Blumen mitbringt. Als Jaaps Eltern wieder einmal in einen winterschlafähnlichen Zustand fallen, versucht Jaap sich in die Außenwelt zu graben — mit dem Spaten eines Mannes, der ihr im Traum die Sonne mitbrachte. Der schmerzliche Ablöseprozeß zwischen Eltern und Kind dauert noch eine Weile an, Jaap gräbt sich wiederholt in die heimische Wohnung zurück, bis die Eltern ihr selbst die Tür zeigen: sie haben sich inzwischen an die Abwesenheit der Tochter gewöhnt.

Ein wundervolles Kinderstück: abenteuerlich-spannend, statt plumper Pädagogik viele Metaphern, und großartig inszeniert von Sewan Latchinian. Fast schon ins Surreale bewegt sich seine Aufführung, aus einem fremden Land oder einer fernen Zukunft scheinen die einzelnen Ausstattungselemente zu kommen. Wie unter Zwang wiederholt anfangs ein Elternteil eindringlich die Reden des anderen, um Jaap klarzumachen, daß es »draußen« viel zu gefährlich ist. Die »Höhlenbewohner« tragen Fliegermützen und -brillen (Ausstattung: Alwin Eckert), die sie wie Käfer aussehen lassen und an groteske Comicfiguren erinnern, wenn ein Brillenglas hochgeklappt wird. Ihre Füße stecken in pelzigen, pfotenartigen Hausschuhen, mit denen sie über den Boden schlurfen.

Das Bühnenbild ist vordergründig karg: ein Bett steht fast aufrecht an der Wand, die Eltern schlafen im Stehen, und Jaap kauert über ihnen auf dem Eisengestell. Sonst sind da nur noch ein Tisch und der Fernseher. Doch im Verlauf des Stücks offenbart die Bühne weitere Geheimnisse: das Phantasie-Mädchen kommt durch die Wand ins Zimmer herein, der Mann mit der Sonne aus dem Boden, und Jaap selbst gelangt bei ihrer Graberei aus verschiedenen Öffnungen zurück in die Wohnung.

Latchinian verwendet eine Ästhetik und Stilisierung, die sonst bei Kindertheatern nicht zu sehen ist. Kalt wirkt die Aufführung deswegen noch lange nicht. Schon allein das gekonnte Spiel der Hauptdarstellerin Ilka Teichmüller und ihrer Kollegen weckt die Emotionen, die auch beabsichtigt sind.

Und wer jetzt glaubt, das könne doch nichts für Kinder sein, der hätte nur die enttäuschten Bekundungen des jungen Premierenpublikums hören sollen, als es in die Pause ging — es wollte lieber auf die Unterbrechung verzichten und wissen, wie die Geschichte weitergeht.

Weniger glücklich inszeniert Oliver Bülchmann die Verwechslungskomödie um Amphitrion: wo Jupiter in Gestalt Amphitrions dessen Frau Alkmene becirct und sein göttlicher Bote Merkur mit dem irdischen Diener Sosias seine Spielchen treibt, bemüht sich Bülchmann um Originalität. Diese Aufführung soll eine Spielplanlinie mit Stücken des internationalen Volkstheaters eröffnen und die breite Masse ansprechen, aber deswegen muß man sie nicht zur seelenlosen Klamotte degradieren.

Genau aber das tut Oliver Bülchmann: seine Schauspieler müssen chargieren, bis es wehtut; einzig Marcus Staiger als Sosias und Arianne Borbach (die man übrigens demnächst als erste ostdeutsche Tatort- Kommissarin erleben kann) als Alkmene schaffen es, ihren Rollen Dichte und Tiefe zu geben. Doch auch sie müssen gegen planlose Modernismen und ein scheußliches Plastikbühnenbild anspielen. Türenklingeln, Taschenlampen und Neonröhren — gemischt mit einem Schuß altem Griechenland — verweigern sich jeglichem übergreifenden Sinn. Amphitrion ist die erste Regie von Oliver Bülchmann — die nächste kann nur besser werden.

Insgesamt jedoch hat das Theater der Freundschaft schon mit den ersten beiden von sieben Inszenierungen (Grenzland und Winterschlaf) aus dem FamilienHerbstPaket bewiesen, daß es inhaltlich und ästhetisch völlig neue Wege auf dem Gebiet des Kinder- und Jugendtheaters betritt. Anja Poschen

Winterschlaf ; 24.11., 10 u. 14 Uhr, 2.12. u. 9.12. jeweils um 10 Uhr.

Amphitrion am 18.11., 23.11. und 30.11. jeweils um 19.30 Uhr, beide Stücke im Theater der Freundschaft, Parkaue/Hans-Rodenberg-Platz 1, Berlin-Lichtenberg.

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