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Aus der Gunst der Stunde

„Folk Roots“ feiert seine 100.Ausgabe  ■ Von Christoph Wagner

Ohne sein Wirken sähe die britische Musikszene anders aus. Nicht in ihren Kernbereichen — im Pop- oder Klassiksektor —, aber an den Ränder, wo sich die Minderheiten tummeln. Wenn heute „Worldmusic“ eine feste Kategorie und etablierte Größe im englischen Musikbetrieb ist, hat das ursächlich mit der Zeitschrift 'Folk Roots‘ zu tun. Und daß Musiker(innen) wie Salif Keita, Flaco Jimenez oder Marta Sebestyen heute weit über die engen Zirkel der Spezialisten hinaus bekannt sind, ist nicht zuletzt ihr Verdienst. Manche haben deswegen schon das in London erscheinende Musikmagazin zum Zentralorgan der britischen „Weltmusik“-Bewegung ernannt.

Vor zwölf Jahren wurde die Zeitung unter dem Namen 'Southern Rag‘ von einer Handvoll Folk- Enthusiasten ins Leben gerufen und war anfangs kaum mehr als eines jener harmlosen regionalen Blättchen, die normalerweise, kaum gegründet, auch schon wieder von der Bildfläche verschwunden sind. Daß es bei 'Folk Roots‘ anders lief und die Zeitschrift bis heute die wichtigste und einflußreichste Stimme für traditionelle Musik in Großbritannien ist (mit einer monatlichen Leserschaft von zirka 40.000), ist nicht zuletzt dem Geschick ihres Herausgebers und Chefredakteurs Ian Anderson zu verdanken — einem ehemaligen Berufsmusiker —, dessen Strategie von Beginn an darauf ausgerichtet war, das Heft offener und intelligenter zu gestalten als die angestaubten Konkurrenten. Die Umstände begünstigten die steile Karriere des Folkmagazins: „Es gab eine regelrechte Lücke, weil die zwei großen Zeitschriften hoffnungslos hinter der Zeit herhinken. Die Leser schauten sich nach etwas anderem um, und auf einmal wurden wir überall im ganzen Land gelesen. So taten wir den Schritt und machten aus dem Regionalblatt eine Zeitung mit landesweiter Verbreitung“, erinnert sich Anderson, um grinsend hinzuzufügen: „Und seither bin ich nicht mehr ins Bett gekommen.“

Ein paar Jahre später konnte 'Folk Roots‘ abermals von der Gunst der Stunden profitieren. 1983 hatten es Billy Bragg und die Pogues geschafft, ganz vorne in den Hitparaden zu landen. Damit hatten sie unversehens eine gewaltige Folkwelle ausgelöst, die die Auflagenzahlen des englischen Folkmagazins erneut nach oben schnellen ließ. Was vorher als riskantes Unterfangen erschienen war, konnte nun 1985 problemlos vollzogen werden: der Schritt von einem dreimonatigen Erscheinungsrhythmus zum Monatsheft. Parallel dazu begann das Interesse der Öffentlichkeit an ethnischer Musik zu wachsen, eine Entwicklung, die das Magazin immer gefördert hatte und ihm nun die Möglichkeit bot, seine Rolle als Institution und Trendsetter weiter auszubauen.

Das Rezept „Inspiration durch Enthusiasmus“ schien Wirkung zu zeigen. Zum britischen und irischen Folk, der in den Anfangsjahren den Schwerpunkt des Blattes gebildet hatte (Leute wie Richard Thompson, Planxty und Steeleye Span waren zeitweise in fast jeder Nummer), kam nun Musik vom Balkan und aus dem Orient. Afrikanische Klänge gewannen an Gewicht. Es gab Themenschwerpunkte zu Indien oder Kuba, und auch der Folkpunk, vertreten durch Gruppen wie The Mekons oder den Violent Femmes, kam ins Blatt. Darüber hinaus ließ man prominente Ethnomusiksympathisanten wie die Rockstars Elvis Costello und Kate Bush zu Wort kommen, ohne dabei die alte Garde von Tom Paxton bis Donovan zu vergraulen. Dem Heft glückte der Spagat zwischen den eher konservativen Folkfans und den unruhigeren Seelen der Ethnoliebhaber. Von Pete Seeger und John Lee Hooker über Nusrat Fateh Ali Khan und Abdel Aziz El Mubarak bis zu Suzanne Vega und Michelle Shocked wurde monatlich auf knapp 70 Seiten das gesamte Spektrum der Klänge abgedeckt, die wenigstens mit einem Bein in einer volksmusikalischen Tradition stehen.

„Roots Music“ heißt in England das Schlagwort dafür. Ian Anderson beschreibt den qualitativen Sprung so: „In den siebziger Jahren waren nur wenige Schallplatten mit nichtwestlicher Musik erhältlich und nur auf akademischen Labels. Anfang der achtziger Jahre fingen allmählich die Firmen an, diese Musik auf einer populären Grundlage herauszubringen. Und plötzlich kam die Vision von einer Musik auf, die nicht Mainstreampop war, sondern Integrität und Wurzeln hatte, zu der man aber auch in der Disko tanzen konnte.“ Diese Idee des Ethnopop, der mit Ofrah Haza bald riesige Erfolge feiern sollte, war wiederum Wasser auf die Mühlen des Weltmusikmagazins.

Mehr und mehr begann sich der Terminus „Worldmusic“ in einer breiteren Öffentlichkeit durchzusetzen — und 'Folk Roots‘ hatte daran entscheidenden Anteil. Für den aufmerksamen Beobachter war das ein Déjà-vu-Erlebnis der musikalischen Art. „Es passierte das gleiche, was in den Sechzigern mit dem Blues geschah“, beschriebt Anderson die Entwicklung. „Lange Zeit gab es nur ein paar wenige Importplatten aus den USA, man mußte in Spezialgeschäfte gehen, und die Fans kannten sich alle untereinander. Von dort aus wanderte der Blues dann geradewegs auf die Titelseite des 'Melody Maker‘. Seither hat jedes Schallplattengeschäft eine Bluesabteilung, wie seit neuestem auch jeder Plattenladen eine Weltmusikabteilung hat. Auch wir sind heute etabliert.“

Dazu war es nötig, sich nicht in einer Nische des Musikbetriebs einzuigeln, sondern permanent den Blick über den eigenen Gartenzaun zu wagen. „Wir haben immer versucht, mit unseren Lesern musikalische Entdeckungsreisen zu unternehmen, die den Horizont erweitern. Wir wollten sie anregen, sich neue Sachen anzuhören — ob Akkordeonmusik aus Madagaskar oder die Dudelsacktänze der Tschechen. Der 'Folk Roots‘-Leser braucht ein offenes Bewußtsein, denn das Alte ist wichtig, aber noch wichtiger ist das Neue, das aus dem Alten entsteht“, beschreibt der Chefredakteur die „Philosophie“ seines Magazins. Viele schwarzafrikanische Musiker verkörpern für ihn diese Verbindung von Tradition und Moderne in idealer Weise.

Im traditionellen Milieu Gorßbritanniens dagegen schaute er sich nach Vergleichbarem bisher vergeblich um. „Was Youssou N'Dour macht, ist doch phänomenal. Er nimmt die traditionelle Musik seines Landes, geht ehrlich damit um und kombiniert sie mit der besten Technologie, um daraus modernen Pop zu machen, der ungeheuer erfolgreich ist. Meine größte Enttäuschung ist, daß das in England niemand macht.“ Die Voraussetzungen dafür wären gegeben: Noch immer gibt es in den einzelnen Grafschaften starke Wurzeln der Volksmusik, wo alte Musiker abends im Pub zum Tanz aufspielen.

Doch der Brückenschlag zu den Jungen will nicht gelingen. Nur ganz wenige Gruppen, wie etwa The Barely Works oder Edward II., haben zaghaft damit begonnen, mit dem traditionellen englischen Folk in zeitgemäßer Form umzugehen und daraus einen Ethnomix zu machen, zu dem auch die Menschen von der Straße tanzen können. „Das Problem ist, daß die richtigen Leute noch nicht auf die richtige Idee gekommen sind. Wir brauchen Künstler, die musikalisch sehr gut sind, von der Tradition begeistert, trotzdem jung und eine gute Spürnase für Trends haben.“ So stellt sich der 'Folk Roots‘-Boß die Zukunft vor.

Kontakt: 'Folk Roots‘, PO Box 337, London N4 1TW, U.K.

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