: "Der Markt ist nicht möglich"
■ "In den nächsten Monaten wird es keine positiven Veränderungen geben", fürchtet der neue (alte) sowjetische Außenminister. Trotzdem ist er dem Ruf Gorbatschows gefolgt: "Ein sanfter Übergang zu einer neuen...
„Der Markt ist nicht möglich“ „In den nächsten Monaten wird es keine positiven Veränderungen geben“, fürchtet der neue (alte) sowjetische Außenminister. Trotzdem ist er dem Ruf Gorbatschows gefolgt: „Ein sanfter Übergang zu einer neuen Gesellschaft hängt von jedem einzelnen von uns ab.“
taz: Glauben Sie immer noch daran, daß Lenin „der von uns am meisten geliebte Mensch“ ist?
Eduard Schewardnadse: Lenin ist auf intellektueller Ebene eine Ausnahmeerscheinung in der Geschichte. Aber Lenin war wirklich ein grausamer Mensch. Ich weiß nicht mehr, wer ihn „Wladimir Robespierrowitsch“ genannt hat, vielleicht Bucharin. Und man kann die Grausamkeit nicht mit der Situation rechtfertigen. Dann könnte man auch Stalin rechtfertigen.
Haben Sie das alles erst jetzt begriffen?
Ich habe Ende der 70er Jahre meine Zweifel bekommen. Ich reagiere nicht besonders schnell: ich brauche viel Zeit zum Nachdenken und treffe erst dann eine Entscheidung, wenn ich endgültig überzeugt bin.
Ist die UdSSR heute für die Marktwirtschaft bereit?
Nein, der Markt ist nicht möglich. Wahrscheinlich werden wir völlig unvorhersehbare Ereignisse erleben. Wir stehen vor einer schwierigen Übergangsperiode, die nach meiner Meinung 5 bis 6 Jahre dauern wird. Ich glaube nicht, daß es in den nächsten Monaten positive Veränderungen geben wird. Im Gegenteil. Wenn wir vor 3 oder 4 Jahren ausländische Investitionen gefördert hätten, dann hätten wir schon Erfahrungen mit marktwirtschaftlichen Verhältnissen. Aber dieser Prozeß wird immer noch gehemmt. Das ist einer der Gründe für meine düstere Prognose. Das wird die Demokraten früher oder später dazu zwingen, sich auf einer gemeinsamen Plattform zusammenzufinden.
Sie leiten die „Demokratische Reformbewegung“. Meinen Sie, daß sie eine Zukunft hat?
Ich glaube, es ist eine Bewegung der Übergangsperiode. Ihr Ziel ist ein sanfter Übergang zu einer neuen Gesellschaftsform, ohne Bürgerkrieg, ohne mörderische Konflikte. Wenn wir uns reorganisieren, dann schaffen wir das. Ich habe vor langer Zeit zu Gorbatschow gesagt, daß die „Demokratische Reformbewegung“ in Richtung auf seine Interessen und die der Demokratie geht. Jakowlew und ich haben uns nicht geändert, wir vertreten dieselben Positionen wie 1985.
Es ist jetzt klargeworden, daß Sie sich mit Ihrem Rücktritt nicht von der Politik verabschieden wollten.
Die Stabilität des Landes und ein sanfter Übergang zu einer neuen Gesellschaft hängt von jedem einzelnen von uns ab. Es hängt sehr viel mehr von der Bewegung ab als von Personen, die bestimmte Posten innehaben.
Sie standen von 1972 bis 1985 an der Spitze Georgiens. Sie haben große Autorität gehabt. Heute erhebt sich in Georgien keine Stimme zu Ihrer Verteidigung. Warum nicht? Hat man denn so große Angst vor Gamsakurdija, dem neuen Präsidenten der Republik?
Täglich erscheinen Artikel, die sich gegen mich richten. Meistens werden völig absurde Anschuldigungen gegen mich erhoben. Das ist eine Belastung. Aber es ist schwierig, wenn die öffentliche Meinung ständig durch die Presse manipuliert wird. Ich habe schon daran gedacht, nach Georgien zu gehen und eine Diskussion unter Beteiligung der Öffentlichkeit zu fordern. Dann könnte jeder seine Klagen und Anschuldigungen vorbringen, und ich könnte darauf eingehen. Ich habe mich auch nach dem 9.April 1989 (als eine Demonstration in Tblissi, der georigischen Hauptstadt, blutig unterdrückt wurde, d.Red.) nicht versteckt und habe Antwort auf alle Fragen gegeben. Dasselbe würde ich auch heute gern tun. Ich sage deutlich, daß ich ein überzeugter Internationalist bin und bleibe, auch wenn dieser Begriff heute in einem schlechten Licht steht. Wenn es nicht den Vertrag von Georgiewsk gegeben hätte (der 1782 zwischen Katharina II. Von Russland und dem georgischen König Irakli II. geschlossen wurde, d.Red.), was wäre dann aus Georgien geworden? Man ist auf die Knie gefallen, um Teil des Russischen Reiches zu werden und die Unterstützung des Zaren zu bekommen. Georgien war zum Verschwinden verurteilt, die Nation stand vor der physischen Vernichtung. Ich habe früher aufrichtig gesagt und ich wiederhole es heute: Ohne Russland wird Georgien zugrunde gehen. Man muß sich an den Verhandlungstisch setzen und eine Lösung finden, vielleicht im Rahmen einer Föderation. Man darf aber nicht mehr zaudern: schon morgen kann es eine Hungersnot geben.
Als Sie vor dem Parlament Ihren Rücktritt erklärt haben, haben Sie gesagt, daß Gorbatschow Ihr Freund sei ...
Ja. Mir schien, daß ich Gorbatschow mit meiner Rücktrittserklärung eine große Hilfe war. Ob er das auch meinte oder nicht, ist eine andere Frage, aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Ich glaube, damals hat er mir meine Demissionierung übelgenommen.
Er hat sie als Verrat aufgefaßt.
Das hat er aber nicht gesagt. Er mußte einen inneren Konflikt überwinden... Er hatte die Möglichkeit, auszusprechen, daß die Bedrohung durch eine Diktatur wirklich bestand. Doch er hat gesagt: ich sehe keinen Putsch und keine Diktatur kommen. Es ist richtig, daß er einen Monat später in Minsk erklärt hat, daß das Land auf das Chaos zusteuert und daß die Diktatur aus der Anarchie hervorgeht.
Blieb Ihnen nichts anderes als der Rücktritt übrig?
Wissen Sie, die Außenpolitik war zum Gegenstand ständiger Kritik geworden. Und niemand, weder der Präsident, noch der Oberste Sowjet, noch Lukjanow (bis zum Putsch am 19. August 1991 Präsident des Obersten Sowjets), ganz zu schweigen von Ryschkow (ehemaliger Premierminister der UdSSR), mit anderen Worten, keiner von denen, die die Außenpolitik verteidigen sollten, hat irgendwas gesagt, kein Wort. Und eine konservative Zeitung in Leningrad schrieb, daß Schewardnadse und Jakowlew die Union zerstört hätten. Ich muß sagen, daß ich meinen Gegnern dankbar bin. Wenn man alles, worauf wir heute stolz sind, diesen beiden Personen zuschreibt, dann macht mir das Mut.
Ein ehemaliges Mitglied des Politbüros der KPdSU, das durch das Scheitern des Sozialismus ermutigt wird! Ist das nicht ein Paradox?
Ich war aufrichtig, als ich an Stalin und Chruschtschow, und dann eine Zeit lang an Breschnew geglaubt habe. Und alle (auf jeden Fall die absolute Mehrheit der Bevölkerung) haben auf die eine oder andere Weise an sie geglaubt. Wir waren natürlich naiv.
Ist es denn wirklich möglich, daß Sie an Breschnew geglaubt haben?
Ja, in den ersten Jahren, in denen er an der Macht war. Breschnew hat sich zumindest nicht in die Angelegenheiten in Georgien eingemischt. Manchmal, wenn auch selten, hat er uns unterstützt.
Als Sie mit Gorbatschow in Pitsunda (1985, vor dem Tod von Tschernenko) das Konzept der Perestroika entwickelt haben, war Ihnen da klar, was alles geschehen würde?
Wir hatten nicht die geringste Ahnung. Wir waren einfach zu dem Schluß gekommen, daß es so nicht mehr weitergehen konnte. Daß man alles von Grund auf ändern mußte... Der Hauptfehler war nach meiner Meinung, daß die Exekutive zu einem bestimmten Zeitpunkt sehr geschwächt war.
Ist Gorbatschow nicht neidisch auf Ihre Popularität und das Ansehen geworden, das Sie sich in der ganzen Welt erworben haben?
Ich bin nicht sicher. Aber mußte man denn eifersüchtig sein? Ich habe mich über alle Erfolge gefreut, die er erzielt hat und habe ihm im Rahmen meiner Möglichkeiten geholfen. Ich will nicht sagen, daß ich im siebten Himmel war, als Gorbatschow den Nobelpreis bekam, aber ich habe mich darüber gefreut wie die anderen auch, weil es die höchste Anerkennung für unsere Außenpolitik und all das war, was in der UdSSR vor sich ging.Ohne die Unterstützung Gorbatschows konnte der Außenminister in den Versammlungen des Politbüros, des Zentralkomitees und des Präsidentschaftsrats natürlich nichts machen. Damals hat er mich unterstützt. Aber als dann die Situation sehr schwierig wurde, als Gorbatschow hätte intervenieren müssen, hat er geschwiegen. Das war sicher ein Fehler von ihm. Interview: Adreij Karaoulow/Brigitte Breuillac/ Copyright: WORLD MEDIA/taz. Übersetzung: Gabriele Ricke
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