: Libyen als Sündenbock für den Lockerbie-Anschlag
Warum die Ermittlungen zum Attentat auf die Pan-Am-Maschine kein Kriminalfall, sondern ein politisches Machtspiel sind/ Gaddafi löst Saddam Hussein wieder in der Rolle des Dämonen ab/ Israel beharrt darauf, daß Syrien hinter dem Anschlag steckt ■ Von A. Böhm und R. Sotscheck
Wenn in einem Kriminalfall drei Geheimdienste in siebzig Ländern herumsuchen, 15.000 Personen vernommen werden, und die Ermittler nach drei Jahren eine Spesenrechnung von 50 Millionen Dollar präsentieren, dann möchte man ihnen schon aus betriebswirtschaftlichen Gründen Erfolg wünschen. Nur ist der Bombenanschlag, der die Pan- Am-Maschine 103 am 21. Dezember 1988 über der schottischen Ortschaft Lockerbie zerriß, kein Kriminalfall — auch wenn US-Präsident George Bush und der britische Außenminister Douglas Hurd letzte Woche wie zwei Polizeikommissare die Schuldigen präsentierten: Libyens Staatschef Gaddafi, seinen Geheimdienst — und als Ausführende der Tat die beiden libyschen Geheimagenten Abdel Basset Ali Al-Megrahi und Lamen Khalifa Fhimah. Die beiden sollen jenen Koffer mit Plastiksprengstoff auf der Insel Malta nach Frankfurt aufgegeben haben, wo er an Bord der Pan-Am-Maschine mit Zielort New York umgeladen wurde.
Gegen Abdel Basset wie auch Lamen Fhimah laufen seitdem internationale Haftbefehle. Washington und London verlangen ihre Auslieferung, was Libyen jedoch ablehnt. Damit nicht genug, ließ die Bush- Administration in altbekannter Manier die Muskeln spielen und drohte dem Revolutionsführer mit militärischer Vergeltung oder wirtschaftlichen Sanktionen. Muammar El- Gaddafi, zwischenzeitlich in seiner Rolle als internationale Inkarnation des Bösen von Iraks Saddam Hussein abgelöst, ist wieder im Fadenkreuz Washingtons und seiner Verbündeten.
Doch die ersten Spielverderber der scheinbar so stimmigen US-britischen Version meldeten sich prompt zu Wort: Israelische Behörden beharren hartnäckig darauf, daß als Hauptakteur des Anschlags von Lockerbie nicht Libyen, sondern die von Syrien gestützte „Volksfront für die Befreiung Palästinas — Generalkommando“ (PFLP-GC), geführt von Ahmad Dschibril in Frage komme. Die USA, so verlautete aus israelischen Regierungskreisen, halte die Verdachtsmomente gegen Damaskus aus politischen Gründen zurück, weil Washington beim Friedensprozeß im Nahen Osten auf den syrischen Staatspräsidenten Assad angewiesen sei.
Sowohl das US-Außenministerium als auch der britische Außenminister Hurd behaupten dagegen steif und fest, die Ermittlungen hätten keinerlei Hinweise darauf erbracht, „daß andere Länder in den Anschlag verwickelt waren“.
Nun muß sich die israelische Regierung in diesem Fall eben die politischen Opportunitätsgründe nachsagen lassen, die sie Washington vorwirft: Die kollegiale Behandlung des syrischen Diktators durch die Bush-Administration während des Golfkrieges als auch im Rahmen der Nahost-Friedenskonferenz ist den Israelis ein Dorn im Auge. Für Jerusalem gilt Syrien nach wie vor als Hort des Terrorismus. Mit dem Iran will man es sich nicht wegen der Verhandlungen über die Freilassung der Geiseln im Libanon verderben.
Denn zu Beginn der Ermittlungen waren britische, US-amerikanische und bundesdeutsche Behörden tatsächlich unisono der palästinensisch-syrischen Spur gefolgt. Nach der ursprünglich verfolgten These stand PFLP-Führer Dschibril im Verdacht, das Attentat im Auftrag der iranischen Regierung ausgeführt zu haben — aus Rache für den Abschuß eines iranischen Airbus durch die US-Luftwaffe im Juli 1988, bei dem 290 Menschen getötet wurden. Fünf Tage nach dem Lockerbie-Anschlag brachte auch Radio Teheran in einem offiziellen Kommentar beide Anschläge in Verbindung.
Sogar einen ersten Tatverdächtigen präsentierten die schottischen Behörden im Dezember 1989: den Palästinenser Abu Talb, der den Kreisen der PFLP zugerechnet wurde und in Schweden wegen terroristischer Aktivitäten vor Gericht stand. Talb, so die schottische Polizei, soll identisch mit dem Mann gewesen sein, der auf Malta jene Kleider gekauft hat, die zusammen mit dem Sprengstoff in den Koffer gepackt worden sind. Die Spur, so vermuten britische Medien, verlor sich plötzlich oder sie wurde aus politischen Gründen nicht weiter verfolgt. Nach der US-britischen Version soll es nun Abdel Basset gewesen sein, der auf Malta Kleider gekauft habe.
Auch das Bundeskriminalamt war auf die PFLP-Verbindung gestoßen. Das BKA hatte Monate vor dem Lockerbie-Anschlag die Frankfurter PFLP-Zelle ausgehoben und dabei Bomben des Typs entdeckt, der später auch in Lockerbie benutzt wurde. Die britischen Ermittler werfen dem BKA vor, diese Information lange geheimgehalten zu haben, um eigene Schlampereien im Sicherheitsbereich zu vertuschen. Es ist möglich, daß die PFLP-GC nach der Verhaftung Abu Talbs und dem Ausheben der westdeutschen Zelle, mit der Talb in ständiger Verbindung stand, nicht mehr in der Lage war, den geplanten Lockerbie-Anschlag auszuführen und sich deshalb an Libyen wandte.
Die US-Regierung verkauft ihre neue Indizienkette nun als detektivische Meisterleistung mit Tatmotiv: Der Anschlag sei Gaddafis Rache für die US-amerikanischen Bomben auf die libysche Hauptstadt Tripolis im Jahre 1986, bei dem 40 Menschen, darunter die Adoptivtochter Gaddafis, starben. Laut US-Generalstaatsanwalt William Barr sei ein Mikrochip in den Trümmern der Pan-Am- Maschine gefunden worden, der offenbar aus dem Zeitzünder der Bombe stammt. Es sei gelungen, die Herstellerfirma in der Schweiz ausfindig zu machen. Diese Firma hatte Zeitzünder derselben Bauart an den libyschen Geheimdienst verkauft.
Der gleiche Chip wurde bei dem Anschlag auf das französische Passagierflugzeug verwendet, das im August 1989 über der Sahara explodierte. Die französischen Ermittlungsbehörden gingen wegen des damaligen Tschad-Konflikts zwischen Frankreich und Libyen davon aus, daß libysche Agenten hinter dem Anschlag steckten. Der französische Ermittlungsrichter Jean-Louis Bruguiere hatte bereits Wochen vor den USA und Großbritannien Haftbefehle gegen führende Mitglieder des libyschen Geheimdienstes, darunter der Schwager Gaddafis, ausgestellt und damit das französische Außenministerium in arge Bedrängnis gebracht, das seine Beziehungen zu Libyen eigentlich wieder „normalisieren“ wollte. Doch niemand kann beweisen, daß ausschließlich Libyen über diese Art von Mikrochips verfügte.
Als triumphierender Dritter präsentiert sich nun Ahmad Dschibril. Auf einer Pressekonferenz in einem Flüchtlingslager in Beirut beschwerte sich Dschibril, dem mehrere Terroranschläge angelastet werden, über die jahrelange „falsche Anschuldigung“ durch die US- Regierung. Der PFLP-Führer will nun gerichtliche Schritte gegen die USA einleiten. „Drei Jahre lang haben die Amerikaner uns und mit uns Syrien beschuldigt, diesen Anschlag begangen zu haben. Nun schieben sie die Verantwortung Libyen zu, morgen ist es vielleicht der Iran. Diese Leute wechseln ihre Opfer wie ihre Hemden.“
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