: Hundert freie Villen in Karlshorst
■ Die Sowjets räumen Häuser und Wohnungen, übergeben sie aber nicht den deutschen Behörden/ Zur vereinbarten Übergabe erschien kein Russe
Berlin. Kein Rauch quillt aus dem Schornstein, die Fenster sind gegen Sicht und Kälte mit einer 'Prawda‘ vom Oktober 1989 verklebt. Über die offene Kellertür führt der Weg zu zwei großen Vierzimmerwohnungen mit Wintergärten und Veranda und Blick auf einen verwilderten Garten. Die sanitären Einrichtungen in Bad und Küche sind vorhanden, nur fehlen die Rohranschlüsse. Auf einem Küchentisch liegen Zeugnisse der letzten Bewohner: eine Kiste mit Büchern und eine rote Fahne mit Hammer, Sichel und Sowjetstern. Die Villa in der Fritz-Schmenkel- Straße 105, nur einen Steinwurf vom »Historischen Museum der Sowjetarmee« in Karlshorst entfernt, steht seit Monaten leer.
Aber nicht nur diese. Rund um das Haus, in dem am 8. Mai 1945 General Keitel die bedingungslose Kapitulation Nazideutschlands unterzeichnete, gibt es rund hundert Villen, die vor kurzem von sowjetischen Offiziersfamilien verlassen wurden: in der Köpenicker- und Waldowallee, in der Rheingold-, Zoschke-, Rudolf-Grosse-, Marksburger-, Königswinter-, Arber-, Weseler- sowie der Fritz-Schmenkel-Straße. Auch viele Wohnungen einfacher Soldaten stehen leer, vor allem in den Blocks der Godesberger Allee. Leonore Ansorg, Mitglied einer lokalen Bürgerinitiative, schätzt die Anzahl der leeren Wohnungen auf 600, dazu kämen noch einmal 200 Wohnungen von Ex-KGB-Offizieren. »Es besteht die akute Gefahr«, sagt der für Karlshorst zuständige Sozialstadtrat von Lichtenberg, Gottfried Mucha, »daß diese Wohnungen im Winter verrotten werden.« Und in der Tat: In einigen Häusern fehlen die Glasscheiben vor den Fenstern, in anderen regnet es durch die Dächer, manchmal wurden Toiletten und Waschbecken abgeschraubt und vermutlich in die Sowjetunion geschickt. »Es ist ein Skandal«, sagt Mucha, »wir haben viele Obdachlose und jüdische Kontingentsflüchtlinge unterzubringen und keine Möglichkeit, an die Wohnungen heranzukommen.«
Das hat auch die Oberfinanzdirektion (OFD) nicht, die im Auftrag des Bundes die Verhandlungen über die Übergabe der geräumten Objekte führen soll. Laut Abzugsvertrag müssen die Alliierten bis zum 31. Dezember 1994 die Bundesrepublik verlassen und die Liegenschaften übergeben haben. Problemlos könnte der Leiter der Westgruppe der Sowjets, Burlakow, und der für den Bereich Vermögen zuständige Major Abanossimow freie Häuser bereits jetzt zur Verfügung stellen. Aber die Sowjets tun es nicht, obwohl die Oberfinanzdirektion ständig darauf drängt und sich in Bonn eine eigene deutsch-sowjetische Kommission mit diesem Problem beschäftigt. Über die Gründe könne man nur spekulieren, sagt die OFD- Referentin Heidrun Hendricks, auffällig sei aber, daß sowohl in Brandenburg als auch in Sachsen viele Wohnungen bereits übergeben worden seien, in Berlin bisher aber nur ein einziges Haus. Für Oktober war mit den Sowjets ein erster offizieller Übergabetermin vereinbart worden, zu diesem Termin sei aber nicht ein einziger Sowjet erschienen. »Was sollen wir tun?« fragt sie. »Wir können die Häuser doch nicht besetzen.« Anita Kugler
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen