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265 AIDS-Tage im Jahr

■ Totensonntag / AIDS braucht heute große Namen

Der alljährliche Welt-Aids- Tag beginnt zum Ritual zu werden. Jeder Eindruck von Totensonntag wird behutsam vermieden. Das Motto „Gemeinsam die Herausforderung annehmen“ ist in seiner Beliebigkeit so auswechselbar, daß die Botschaft auf der Strecke bleibt. Gegenüber der Originalfassung des Mottos „Sharing the Challenge“ vermeidet man mit Bravour das Wort „teilen“ — denn geteilt wird nicht.

Zehn Jahre sind seit dem Ausbruch der Aids-Krise vergangen, und man steht immer noch am Anfang. Es gibt keine Erfahrungen und Erkenntnisse, die unwiderrufbar durchgesetzt sind. Auch simple Wahrheiten müssen beharrlich verteidigt werden — etwa, daß nicht der HIV-Positive allein die Verantwortung trägt. So gesehen ist Safer Sex nicht nur Schutz, sondern auch ganz praktische Solidarität. Doch damit ist es nicht weit her.

Wie wenig man gelernt hat, mit Aids zu leben, demonstriert die regelmäßig wiederkehrende Einteilung der Betroffenen in „unschuldige Opfer“ und diejenigen, die Aids quasi naturgesetzlich trifft. Dazu gehört der Hinweis, daß zunehmend auch Frauen von Aids betroffen sind. Das ist richtig. Aber weshalb „auch“? Dutzende von Beispielen könnten hier angeführt werden: Bluter, Patienten, die durch Bluttransfusionen infiziert wurden, Fixer. Die Infektionswege sind verschieden, aber sie sind bekannt. Am Schicksal ändert sich nichts.

Wen interessiert das eigentlich noch? Aids braucht den Welt-Aids- Tag, braucht das Spektakel. Die Zeit, in der Zahlen ausreichten, Interesse zu erwecken, ist vorbei. Aids läßt sich nicht mehr ohne weiteres verkaufen. Gerade noch rechtzeitig zum Welt-Aids-Tag starb Freddie Mercury: Aids braucht große Namen. Gleichgültig, wie man es bewertet, aber jeder 50.000. Aids-Tote bekommt eine Freikarte zum Medienrummel.

Daß Medien gerne auf Prominente anspringen, das hatten vor einiger Zeit schwule Aids-Aktivisten in den Vereinigten Staaten erkannt. Die Todesursache Aids wurde für viele zum nachträglichen Coming Out, das genüßlich aufbereitet wurde. Freddie Mercury ist da kein Einzelfall.

„Outing“ [das gezielte Benennen öffentlicher Personen als Homosexuelle, d.Red.] wurde zur politischen Strategie, der Öffentlichkeit wurden Namen geliefert. Neben — teils vehementer — Kritik erreichte man mit der Kampagne, daß schwule Themen, somit auch Aids, von der Gesellschaft verstärkt zur Kenntnis genommen wurden. Ein gerne unterschlagenes Resultat des Outing ist auch die Tatsache, daß sich die Bereitschaft zum freiwilligen Coming Out in den USA erhöht hat. Bewußt wurde Outing als eine Art „Mobilmachung“ in der Aids-Krise verstanden. Das Ausmaß dieser Krise in den USA und die Tatenlosigkeit der Verantwortlichen rechtfertigte auch ungewöhnliche Aktionen.

Freddie Mercurys Coming Out kam spät, der Rummel um ihn wird bald abgefeiert sein. Abgesehen von einem Benefizkonzert für den „Terrence Higgins Trust“, den Dachverband der britischen Aids-Hilfen, wird nicht viel übrig bleiben.

Ein anderes Coming Out sorgte vor kurzem in den USA für Aufregung. Der populäre Basketballspieler Earvin „Magic“ Johnson erklärte vor der versammelten Fernsehnation, daß er HIV-positiv sei. Die Mitteilung wirkte wie ein Schock — der heterosexuelle Johnson gehörte keiner „Risikogruppe“ an. Das immer noch vorherrschende Klischee von der „Schwulenpest“ Aids geriet ins Wanken.

Johnsons Beispiel verrät etwas von der Bigotterie, mit der Aids immer noch betrachtet wird. Ein „unschuldiges Opfer“ — einer, der Pech gehabt hat. Doch Johnson hat Konsequenzen gezogen, in Zukunft möchte er sich in der Aids-Prävention engagieren. Für Aids-Aktivisten ist dies eine Ermutigung, da damit bislang vernachlässigte Bevölkerungsgruppen erreicht werden können. So war man bemüht, den Konflikt um die offenbar gewordene Doppelmoral gering zu halten. Lediglich Martina Navratilova legte den Finger auf die Wunde: „Wenn ich mit dem Aids- Virus infiziert wäre, würden die Leute dann Verständnis zeigen? Nein, sie würden sagen, ich sei lesbisch und ich hätte es so verdient“, erklärte sie kürzlich in einem Interview mit der 'New York Times‘.

Ohne Rummel, ohne Spektakel ist es zunehmend schwieriger, Aids im Bewußtsein der Öffentlichkeit zu halten. Der Welt-Aids-Tag ist eine Möglichkeit, doch tatsächlich hat das Jahr 365 Aids-Tage. Täglich werden Menschen infiziert, sterben Menschen an Aids. Das nachlassende Interesse paßt nicht zu den immer neu gemeldeten Steigerungszahlen. Aids wird zunehmend zu einem Problem der Länder Asiens und Lateinamerikas. Doch zu glauben, die Krise in Westeuropa sei überwunden, wäre ein fataler Trugschluß.

„Gemeinsam die Herausforderung annehmen“ ist das offizielle Motto des diesjährigen Aids-Tages. Aber wer nimmt da welche Herausforderung an? Nach der Wiedervereinigung begann das Gerangel um knapper werdende Haushaltsmittel. Viele Modellprojekte im Aids-Bereich, die bislang vom Bund finanziert wurden, gingen in die Zuständigkeit der Länder über. In der Praxis bedeutet dies das Aus für zahlreiche sinnvolle und notwendige Projekte.

Dies betrifft zunächst die Selbsthilfeeinrichtungen in den alten Bundesländern. Gleichzeitig kommen aber noch die Aufgaben in den neuen Ländern hinzu, wo auch im Aids-Bereich Pionierarbeit zu leisten ist. Die dort vor und nach der Wende entstandenen Selbsthilfe-Initiativen müssen gefördert und ausgebaut werden. Eine gezielte und betroffenenorientierte Aids-Prävention hat dort nur unzureichend stattgefunden.

Die Aufgaben sind nicht geringer geworden, doch mit dem verordneten Sparzwang ist die Bewältigung auch nicht leichter. Trotzdem droht auch hier die Wiederholung alter Fehler — Aufklärung nach dem Gießkannenprinzip, ohne auf tatsächlich Betroffene Rücksicht zu nehmen. Öffentliche Aids-Prävention hat den kleinsten Nenner zum Maßstab, die Gewichte sind ungleich verteilt — zu ungunsten der Hauptbetroffenengruppen. Initiativen aus dem Selbsthilfebereich können dem entgegensteuern. Ohne öffentliche Förderung sind sie aber kaum mehr als der Tropfen auf dem heißen Stein.

So gesehen ist weniger der Welt- Aids-Tag von Interesse als der Tag danach. Klaus Lucas

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