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Frankreichs „schwarze Jahre“

Die Kollaboration mit Hitlerdeutschland  ■ Von Christophe Zerpka

„Es war, als erstürbe alle Hoffnung der Welt. „Liberté — Egalité — Fraternité“, die großen französischen Inspirationen für Herz und Geist der Menschheit, zählten nichts mehr — Hitlers Armee, gelassen und diszipliniert, marschierte ohne jede Gegenwehr unter dem Triumphbogen hindurch und die Champs-Elysées hinab. Macht war also Recht, alle Gerechtigkeit dahin. Das war keine Eroberung wir irgendeine andere zwischen vergleichbaren Staaten. Politisch und historisch ausgedrückt, hatte sich ein modernes demokratisches Industrieland erstmals einem totalitären Staat gebeugt — ein demütigendes Verdikt über die Demokratie.“

Vier Jahre lang, 1940 bis 1944, war Frankreich von Hitlers Truppen besetzt, vier Jahre lang lebten die Franzosen „à l'heure allemande“, nach Uhren, die in Berlin gestellt wurden, vier Jahre lang war die stolze „République fran¿aise“ abgeschafft, ersetzt durch einen obskuren „Etat fran¿ais“ mit dem greisen Marschall Pétain an der Spitze, vier Jahre lang schließlich hieß die Hauptstadt nicht Paris, sondern Vichy, ein großbürgerlicher Kurort im Zentralmassiv. Hitler hatte den deutschen Erbfeind in einem beispiellosen Blitzfeldzug in 43 Tagen zum Waffenstillstand gezwungen, Paris wurde Sitz der deutschen Kommandantur. Für die Franzosen war dies ein Schock, der bis heute nachwirkt. Wie sonst sind politische Entscheidungen zu interpretieren, die außerhalb des Hexagons oft belächelt oder als Großmannssucht kritisiert wurden? Zuallererst die „force de frappe“, kostspieliges Verteidigungskonzept, welches durch die dafür notwendigen Versuchsreihen im Pazifik immer wieder Schlagzeilen macht. „Plus jamais ¿a — Nie wieder das“ könnte man sagen, um einen modernen Slogan der französischen „Alternativen“ zu persiflieren, aber die Schmach der Niederlage von 1940 verdeckt noch Schmählicheres. Frankreich war für Hitler nicht nur leichte Beute, sondern auch leicht einzubinden in die „Festung Europa“, in die Ideologie der deutschen Dominanten. Dieses heikle Kapitel der französischen Geschichte war ebenso wie der Algerienkrieg lange tabu, erst seit einigen Jahren, vor allem seit der Ära Mitterrand (1981), erinnert man sich dieser „Leiche im Keller“, die sich nach dem de Gaulleschen Gefrierschrank ruchbar zersetzt.

1983 wurde Klaus Barbie aus Bolivien an seinen Tatort Lyron „zurückverlegt“, 1987 bekam er seinen „Prozeß gegen die Menschlichkeit“, und da tauchten wieder Namen auf, auch französische Namen: Namen jener, die den Besatzern nur allzu willig bei der Arbeit zur Hand gingen. Der Prozeß versetzte zumindest einen Teil der Franzosen wieder ins Jahr 1944, jenes Jahr, in dem plötzlich fast jeder Franzose im Widerstand gewesen war: Der Held hieß Jean Moulin, 1965 feierlich im Panthéon beigesetzt, ein Opfer der Bestie Barbie. Aber es gab eben auch Kollaborateure.

Ein Name, der ebenfalls eine Lawine auslöst, wenn es um die Verstrickung der Franzosen in die deutsche Besatzungspolitik geht: Paul Touvier, Lyoner Chef der berüchtigten Milizen. Er wurde nach dem Krieg von der katholischen Kirche gedeckt, und erst jetzt soll ihm der Prozeß gemacht werden. Schließlich wird selbst der Chef jener Partei mit dem Kollaborationsvorwurf konfrontiert, von der im Partisanenkampf gegen die deutsche Besatzung die meisten Menschen zu Tode kamen: KP-Chef Georges Marchais arbeitete während des Krieges bei Messerschmidt in Augsburg, als Zwangsarbeiter, wie er sagt, als Freiwilliger, wie aus Dokumenten hervorgeht.

46 Jahre nach der „Libération“ wird das Thema immer noch nicht emotionslos diskutiert, aber inzwischen haben einige Bücher zur Versachlichung des Themas beigetragen. Neben dem umfassenden Werk des Historikers Henry Amouroux (L'Histoire des Fran¿ais sous l'Occupation) ist nun eine Aufsatzsammlung erschienen, die verschiedene Aspekte dieser „Zusammenarbeit“ zwischen Nazi-Deutschland und Vichy-Frankreich behandelt. Kollaboration in Frankreich, herausgegeben von Gerhard Hirschfeld und Patrick Marsh, ist zuerst 1989 in England erschienen, bevor es nun ins Deutsche übersetzt wurde.

Monsieur Dupont, der Mann auf der Straße: gleichgültig bis opportunistisch

Gerhard Hirschfeld weist in in der Einleitung auf die vielen, auch widersprüchlichen Aspekte der Kollaboration hin, die für die französische Seite unter dem Motto: „Aus der Niederlage das Beste machen“ zusammengefaßt werden könnten. 1940 war eine deutsche Dominanz in Europa zumindest für die nächsten Jahre voraussehbar, sodaß alle Bemühungen dahin gingen, mit den Okkupanten Vereinbarungen zum gegenseitigen Vorteil zu treffen. Diese Illusion wurde lange aufrechterhalten, obwohl schon bald klar wurde, daß die Nationalsozialisten Frankreich ebenso wie die anderen besetzten Länder hemmungslos auszuplündern gedachten. Allein die deutsche Auflage, jeden Tag 400 Millionen Francs Besatzungskosten aufzubringen, sowie der auf 20 Francs=1 D- Mark festgelegte Wechselkurs machen eine eigenständige Wirtschafts- und Finanzpolitik unmöglich. Die französische Wirtschaft wurde binnen kurzer Zeit völlig von deutschen Aufträgen abhängig, was nach der Befreiung zu spektakulären Enteignungen (Renault) führte. „Teile und herrsche“ heißt die deutsche Devise, und dies ist wörtlich zu nehmen: Frankreich bestand aus vier Teilen, die nur noch wenig miteinander zu tun hatten. Elsaß-Lothringen wurde Teil des Reiches, der industrielle Norden wurde direkt der Wehrmacht unterstellt, Paris sowie die Nord- und Westküste bekamen einen ähnlichen Status, das „freie Frankreich“ bestand aus zwei Fünftel des ursprünglichen Territoriums, wobei im Südosten noch eine italienische Besatzungszone existierte.

Paris unter deutscher Besatzung, das hieß „Deutschland siegt an allen Fronten“, als Spruchband am Gebäude der „Assemblée Nationale“, freies Spiel für Bewunderer der Nationalsozialisten und für Antisemiten, die in Zeitungen wie 'Je suis partout‘ und 'Au pilori‘ nun ihre Ideen ungehindert verbreiten konnten. Monsieur Dupont, der Mann auf der Straße, verhielt sich gleichgültig bis opportunistisch. „Arbeit, Familie, Vaterland“ hieß die Devise des neuen Frankreichs, Vater war ein ergrauter Held aus dem Weltkrieg, der seine Kinder schon vor dem Schlimmsten bewahren würde. Aber war Philippe Pétain, schon 84jährig, überhaupt imstande, Frankreich zu regieren? War es nicht eine Art französischer Hindenburg, der von ganz anderen nur als Galionsfigur benutzt wurde?

H.R. Kedward beschreibt die schillernde Figur des „anderen“ Philippe, Philippe Henriot, der mit seinen rhetorisch ausgefeilten Rundfunkreden Millionen Franzosen in seinen Bann zog und der sogar Pétain die Rede schrieb, in der Deutschland für die Rettung der französischen Kultur vor dem Bolschewismus gedankt wurde. Eine Symbolfigur der Kollaboration, die ebenso symbolisch am 28. Juni 1944 von Mitgliedern der Réstistance erschossen wurde. Unter dem patriarchalischen Pétain-Régime gab es diverse Strömungen, die von einem anglophoben Nationalismus bis zum wüsten Antisemitismus gingen. Die extreme Rechte befand sich nach der deutschen Invasion in einem Dilemma: Zwar war die verhaßte Republik nun abgeschafft, aber mit Hilfe des deutschen Erzfeindes.

Paul J. Kingston unterscheidet drei Strömungen innerhalb der französischen Rechte, die mit verschiedenen Motivationen kollaborierten: Marcel Déat und die von ihm gegründete RNP (Rassemblement Nationale Populaire) genoß das Wohlwollen des deutschen Botschafters Otto Abetz, während Jacques Doriot, Vorsitzender der PPF (Partei Populaire Fran¿ais), von der SS unterstützt wurde. Joseph Darnand schließlich, ein rechtsradikaler Haudegen und früherer Deutschenhasser, wurde Chef der „Milices fran¿aises“, und im August 1943, als die Miliz der SS unterstellt wurde, bekam er den Rang eines Sturmbannführers.

Gemeinsamer Nenner bis zum bitteren Ende: der Kampf gegen den Bolschewismus

Diese drei Apologeten für ein neues, autoritäres Frankreich kämpften vier Jahre lang um Macht und Einfluß, indem sie die Widersprüche zwischen Vichy und Berlin geschickt ausnutzten. Der gemeinsame Nenner blieb bis zum bitteren Ende der Kampf gegen den Bolschewismus, die Rettung des Abendlandes. Etwas kurz kommt in dieser Betrachtung Pierre Laval, der in seiner Funktion als Ministerpräsident einen skrupellosen Pragmatismus verfolgte und daher lange von Hitler favorisiert wurde. Dagegen wird die Rolle der katholischen Kirche hauptsächlich unter dem Aspekt des Widerstandes beleuchtet, gerade die schon erwähnte Affäre Touvier beweist jedoch, daß der Klerus selbst nach dem Krieg prominente Kollaborateure jahrelang in Klöstern versteckt hielt.

Auch heute gibt es wieder die Verbindung zwischen traditionalistischem Katholizismus und der rechtsextremen „Front National“. Gerd Krumeich grift diesen aktuellen Aspekt auf, wenn er das ambivalente Symbol „Jeanne d'Arc“ als Nationalheldin des Vichy-Regimes behandelt, da auch die modernen Rechtsradikalen des Jean- Marie Le Pen auf die heilige Jungfrau von Orléans rekurrieren.

Drei Autoren beschäftigen sich mit drei Schriftstellern, die, jeder auf seine Art, die Kollaboration literarisch verkörpern. Dem Traumtänzer Marcel Aymé konnte nach der Befreiung lediglich sein Opportunismus zum Vorwurf gemacht werden, da er in Kollaborationsblättern wie 'La Gerbe‘ oder 'Je suis partout‘ veröffentlicht hatte. Ganz anders verhielt es sich mit Robert Brasillach. Er hatte sich schon 1938 für den Faschismus deutscher Prägung begeistert, bevor er 1941 Chefredakteur des berüchtigten 'Je suis partout‘ wurde. Brasillach verkörpert die Verbindung von Literatur und politischer Polemik, seine Hinrichtung war im Februar 1945 beinahe zwangsläufig. Auch die schillerndste, genialste Figur der französischen Literatur jener Jahre, Louis Ferdinand Céline, wäre gewiß zum Tode verurteilt worden, wäre man seiner 1945 habhaft geworden. Als wortgewaltiger Zyniker und Arzt, der „Menschsein für eine unheilbare Krankheit hielt“, konnte er sich niemals politisch engagieren wie Brasillach. Sein virulenter Antisemitismus, 1937 unter dem Titel Bagatelles pour un massacre veröffentlicht, band ihn jedoch an das Vichy-Regime und die nationalsozialistische Ideologie, der er bis ins Sigmaringer Exil und nach Berlin folgte. Den moralischen Niedergang, den er in seinen Vorkriegsromanen auf Frankreich bezog, seinen „düsteren Realismus“, empfand er durch den Krieg bestätigt, nun freilich allgemein, überall. Als ihm 1951, aus dänischer Gefangenschaft entlassen, in Frankreich der Prozeß gemacht wurde, konnte er mit einem milden Urteil rechnen. Céline steht für eine Literatur, die nach dem Massaker des Ersten Weltkrieges verzweifelt umherirrt auf der Suche nach Idealen, bevor sie sich inmitten einer Ideologie wiederfindet, die alles negiert.

Patrick Marsh beschreibt das französische Theater, welches als kulturelles Refugium einen ungeahnten Aufschwung erlebte, freilich unter strengster Kontrolle. Es wirkt heute erheiternd, wenn die Zensur beispielsweise Sätze wie „Wen seh ich da im Vestibül? M. Adolphe, den schändlichen Adolphe!“ aus 29 degrées à l'ombre von Eugène Labiche dahingehend änderte, daß sie Adolphe durch Alfred ersetzte.

Ein echter Freiraum war das Kino, welches, wie Roy Armes nachweist, „eine offenkundige Autonomie gegenüber der Stimmung der Zeit“ bewies, sieht man von Propagandafilmen deutscher Provenienz ab. Der Film war es denn auch, der als erstes Medium nach dem Krieg das heikle Thema „Collaboration“ behandelte, zuerst 1955 andeutungsweise in Alain Resnais Hiroshima mon amour, später (1971) dokumentarisch in Le Chagrin et la pitié, bevor dann Louis Malle mit Lacombe Lucien und später Au revoir les enfants den Damm endgültig brechen lassen. Das alltägliche Leben in Paris unter der Besatzung hat Fran¿ois Truffaut in Le dernier Métro realistisch dargestellt. Colin Nettelbeck beschreibt im Schlußwort all diese Versuche, diese „schwarzen Jahre“ in Film und Literatur aufzuarbeiten. Obwohl das Umschlagbild einen deutschen Soldaten beim Flirten mit einer Französin zeigt, werden solche Formen „unpolitischer“ Kollaboration so gut wie nicht erwähnt. Um das tagtägliche, unspektakuläre Zusammenleben zwischen Besatzern und Bevölkerung nachvollziehen zu können, muß man sich an den schon erwähnten Henry Amouroux halten — oder ins Kino gehen.

Gerhard Hirschfeld, Patrick Marsh (Hg.), Kollaboration in Frankreich — Politik, Wirtschaft und Kultur während der nationalsozialistischen Besatzung 1940 bis 1944. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1991, 416 S., 44 D-Mark.

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