: Ein Stich in den Mietshauskörper
Uraufführung von Schwabs „Volksvernichtung oder meine Leber ist sinnlos“ ■ Von Lilli Thurn und Taxis
Drei Szenen, drei Welten, drei Trostlosigkeiten. Wohnküche, Wohnlandschaft und Salon. Drei Parteien in einem Haus, die einander den Tod herbeiträumen und doch nebeneinander leben müssen, die einander nicht entkommen, so sehr sie auf ihrer Verschiedenheit beharren.
Grauer kalter Marmor bildet den Rahmen für das Leben in einem Grazer Mietshaus zwischen Klein-, Spieß- und Großbürgerlichkeit im Bühnenbild von Marlene Poley und Christian Sedelmayer. „Eine Küche wartet immer“, rechtfertigt Frau Wurm (Heide von Strombeck), eine farblos verhärmte Pensionistin, ihre Existenz. Versehen mit gelben Gummihandschuhen ist sie unentwegt am Spülstein tätig. Ihre einzige Liebe gilt einer Topfpflanze, und das äußert sich in unentwegtem Gießen, wenn sie mit ihrem Sohn Hermann aneinandergeraten ist. Hermann Wurm, wunderbar gespielt von Michael Tregor, erinnert in seinem kruden Verwinkeltsein an eine Figur von Egon Schiele. Der eigenartige Junge mit dem Klumpfuß und dem wirren roten Haar ist die Crux seiner Mutter, ihre „Geschlechtsstrafe“. Umgekehrt träumt Hermann von einem Leben ohne die allgegenwärtige Mutti mit ihrem „lebenslänglichen Lebensbuckel“, wenn sein Kumpfuß sich frei wachsen wird und aus dem Krüppelhermann ein kleiner Gott wird, großer Maler der „Grazkunst“ und Erfinder der persönlichen Lichtstrahlen.
Volksvernichtung oder meine Leber ist sinnlos nennt Werner Schwab seine „Radikalkomödie“, die am vergangenen Montag im Werkraum der Münchner Kammerspiele (Regie: Christian Stückl) uraufgeführt wurde. Erst mit der Vernichtung eines anderen glauben die Figuren ihr Lebensglück zu erreichen.
Rudi Kovacic (trainingsbeanzugt, seitengescheitelt, selbstredend schnurrbärtig: Peter Herzog), in der zweiten Generation einheimischer Deutsch-Österreicher, samt opulenter Gattin (Jennifer Minetti) im mehr als mutigen ärmellosen Schlauchhosenanzug und ihren dümmlich-ordinären Töchtern Bianca (Bettina Hauenschild) und Desirée (Petra Einhoff) sind durch die Querelen im Hause Wurm in ihren Familiengefühlen aufgestört. Sie empfehlen Frau Wurm ein helles, luftiges Altersheim, ihrem künstlerischen Krüppel eine „geschulte Gesundheitsanstalt“. Das ist ihre humane Variante. Die Frau Grollfeuer dagegen, eine ältere, sehr exzentrische Witwe, ganz „grande dame“, die ihre Nachbarn nicht nur „lautlich abscheulich“ findet und daraus auch keinen Hehl macht, müßte vernichtet werden. Das brächte nicht nur eine weitere Wohnung für die Kinder, auch die beständigen spitzen Angriffe auf die österreichische Familienbetriebsgemeinheit hätten endlich ein Ende. Die Befindlichkeit der Kovacics, auf ihrer lammfellenen Familienspielwiese zwischen Kühlschrank, Fernseher und Hamsterkäfig, wäre wieder hergestellt.
Wie graut es einem beim Blick in die Wohnstuben der Wurms und Kovacics' vor all den Gemeinheiten, der gnadenlosen Dummheit, dem spießbürgerlichen Wohnklo-Mief. Wäre da nicht Sprache. Werner Schwab legt seinen Monstern Gold in die häßlichen Münder. Selbst größte Widerwärtigkeiten werden durch ihre Formulierung abgemildert, überhöht, wie das Tuch (das Frau Gollfreuer auf das entstellte Gesicht des von ihr geschätzten und dennoch oder gerade deswegen getöten Hermann legt) dem Toten die Würde gibt, die er als Lebender nicht haben sollte.
Frau Gollfeuer (Doris Schade) hat die Minderwertigkeit um sich herum zu Tisch gebeten. Aufgetakelt erscheinen sie alle, dem Spektakel bei der verhaßten und doch bewunderten Gastgeberin, die immerhin ein ganz persönliches Duwort mit den Politikern im ganzen Land haben soll, beizuwohnen. Vom ärmlichen weißen Kragen, mit Röslein bestickt, bis hin zum imposanten Federtopfhut der Frau Kovacic, der nuttig schrillen Aufmachung ihrer Töchter und dem flotten lila Sakko mit Trainingsanzugsstreifen an den Ärmeln des „fertig befriedigten Totalgesichts“ Rudi Kovacic haben sie sich die größte Mühe gegeben.
Was die so schaurig festlich Gekleideten nicht davon abhält, sich alsbald wie zu Hause zu fühlen und sich gegenseitig den Tod zu wünschen. Die Grollfeuer genießt, ermutigt die Streitenden, schürt das Feuer, um schließlich zu triumphieren: „Sie beweisen mithin immer neuerdings meine Einladungsidee, meine Herrschaft, haben Sie gehört. Herrschaften. Heute sind ihre Felle herschaftliche Felle, letzte Haut. Sie werden bei mir sterben, wissen Sie...“ Als ihr Werk vollbracht, die Volksvernichtung vollzogen, die Grollfeuer endgültig allein ist in einer sich zuspitzenden Geräuscharmut, beginnt ihr großartiger Monolog, nimmt die bislang höchst distanziert gezeichnete Gastgeberin Konturen an. Sie bereitet ihrem Leben in der Erkenntnis ein Ende, daß „ihre Leber sinnlos war“, daß sie das Organ umsonst strapaziert hat, es ihr mit all der Trinkerei nicht gelungen ist, sich „wenigstens eine Außenschönheit einzbilden“.
Göttlich ist Doris Schade, wenn sie in immer betrunkenerem Zustand danach giert, in „einen erbärmlichen Mietshauskörper“ hineinzustechen, wenn sie sich — bisher nur hohe schwarze Dame — immer mehr der Auflösung preisgibt, mit der Haltung auch ihr Gesicht zerfällt. Wenn sie da kichert, hohnlacht, sich selbst verlacht. Wenn sie zum Schluß, zerstörter als die von ihr verachteten Mittelstandsmenschen, sich die Leber aus dem Leib schneidet, um sie dann sterbend zu verzehren.
Der Schluß wäre bald zu schön, und so darf der Zuschauer das Gruselkabinett noch nicht verlassen: Alles war nur ein böser Traum!
Erneut versammelt man sich in voller Takelage bei Tisch, doch diesmal bleibt die Grollfeuer ganz Dame, ganz mordunlustig, ganz konventionell, immerhin noch unendlich boshaft. Das Geschehen löst sich in harmloses Geplänkel auf. Wie es bei einem mittelmäßigen Mittelstandsabendessen so zugehen kann.
Münchner Kammerspiele: Volksvernichtung oder meine Leber ist sinnlos. Regie: Christian Stückl. Mit Doris Schade u.a. Wieder am: 2., 6., 12., 15., 20., 27.Dezember.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen