Dies Leben ist nicht mein Leben

■ Unica Zürn bei den Freunden der italienischen Oper

Sie hat etwas von einer »Sorciere« — einer Hexe auf gut deutsch, diese lange, dünne Person mit den schwarzen langen Haaren, deren Ideen so gar nicht in das Nachkriegsdeutschland im Wirtschaftswundertaumel passen.

Mit »Hommage an Unica Zürn« überschreibt Jean Marie Boivin sein Theaterstück, das am 19.11. 91 bei den »Freunden der italienischen Oper« uraufgeführt wurde. Boivin ehrt eine ungewöhnliche Schriftstellerin (geb. 1916), die 1953 nach Paris auswanderte und über die seit ihrem Freitod 1970 das Gras des Vergessens wächst. Sie, die mit eigenwilligen Texten die Bewunderung der Surrealisten erregte und in deren Häusern ein- und ausging, wird heute nicht im Reigen der illustren Namen zitiert — Henri Michaux, Man Ray, May Ernst u.a., nicht zuletzt Hans Bellmer, ihr Lebensgefährte.

Ein »Frauenschicksal« also? Unica Zürns Geschichte ist alles andere als typisch. Und doch haftet dieser Geschichte etwas Bezeichnendes an, das so nur vor dem Hintergrund einer weiblichen Sozialisation denkbar ist. Eine talentierte und schöne Frau verfängt sich derart in der Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit, daß sie ihr Dasein mit dem Satz: »Dieses Leben ist nicht Mein Leben geworden« überschreibt.

Unregelmäßig ausbrechende schizophrene Schübe mit anschließenden depressiven Phasen zwingen die Künstlerin zu jahrelangen Aufenthalten in psychatrischen Anstalten. Nur auf dem Hintergrund dieser Geschichte ist die Inszenierung Boivins zu verstehen, der Textpassagen und Sätze aus Zürns »Der Mann im Jasmin« und »Dunkler Frühling« eigenhändig in eine Bühnenfassung brachte. Und da die Autorin ausschließlich Autobiographisches schreibt, ist sie auch Mittelpunkt der Handlung.

Ein karger schwarzer Raum mit aufdringlich rotem Fußboden suggeriert Anstaltsatmosphäre — aber einmal nicht in weiß. Eine einsame Rüschengardine als verirrtes Relikt einer bürgerlichen und heilen Welt schmückt den Torbogen in der Bühnenmitte. Drei Fernsehapparate zeigen ein etwa achtjähriges Mädchen, das mit monotoner Stimme auswendig Gelerntes heruntersagt. Aber was diese Stimme, die mühelos unter einen Weihnachtsbaum gepaßt hätte, da erzählt, will nicht so recht zum wohlerzogenen Vortragsstil passen. Hier rollt sich eine Kindheit aus, voll dumpfer Ängste, verbotener Lüste und bedrohlicher Symbolik. Ein Fingerzeig auf die Ursachen einer schizophrenen Krankheitsgeschichte?

»Wenn ich in meinem Zimmer liege und einschlafen soll, betrachte ich das Fensterkreuz. Der Punkt, in dem sich die beiden Linien treffen, bedeutet ein Geheimnis. Von einer furchtbaren Einsamkeit erfüllt, beginne ich die Welt der Erwachsenen zu hassen. Ich stehe heimlich auf und rutsche nackt langsam das Treppengeländer herunter. Ich habe das Gefühl der Wollust zum ersten Mal im Schlaf kennengelernt.«

Unica Zürn steht denn als Erwachsene gleich zweimal auf der Bühne: Als Adelgisa, die Vernünftige, Nonne und Krankenschwester, die alles schafft, Zürns Wunschbild ihrer selbst, das hier Wirklichkeit wird. Und als Norma, die Reale, Gefühlsbetonte, die Verrückte, die an der Wirklichkeit zerbricht. Die Namen der Figuren sind — ebenso wie die traurigschönen, mehrstimmig vorgetragenen Gesänge in Moll — der Oper Norma von Vincencio Bellini entlehnt. Eine Oper, die die Künstlerin liebte. Boivin läßt die Melodien mit Anagrammtexten von Zürn vortragen: eine aufwühlende Mischung aus surrealistischem und klassischem Material.

Die zweifache Unica bekommt in Flavio einen männlichen Gegenspieler und das »Jeux à deux« kann beginnen. Für das Spiel zu zweit hat die Autorin feste Regeln aufgestellt. Im Wesentlichen geht es darum, sich nicht zu berühren, keinen Kontakt aufzunehmen und das ein Leben lang... Es ist das Spiel des Lebens und der Partnerschaft.

»Regel Nr. 9: Den Spielpartnern, die während der Jeux à Deux alle Punkte der Spielregeln, stets sorgfältig beachten, erlaubt Punkt 9 Der Spielregel, miteinander zu sterben, ohne den Spielpartnern für die Absolvierung ihres gemeinsamen Todes einen größeren Zeitraum als von 9 Uhr abends zuzubilligen.«

Angesichts einer von Phantasie und Bildern nur so sprühenden Vorlage, die sich wie eine halluzinogene Stadtrundfahrt durch Berlin und Paris und die Irrenanstalten dieser Städte liest, ist die Aufführung etwas spartanisch geraten. Man geizt mit Effekten, einzig die Sprache, zugegeben das wichtigste Medium der Künstlerin, steht im Mittelpunkt. Boivin läßt von außen auf eine Frau schauen, die die gemeinsame Ebene gesellschaftlich erlaubter Realitätswahrnehmung verlassen hat. Kalt und unbeschönt, belacht und ausgegrenzt, steht sie im Rampenlicht. Die gesprochenen Sätze bleiben in ihrer Poesie ebenso einsam wie die sie vortragenden Personen. Ein Dialog findet nicht statt.

Von den Schauspielern besticht Wiebke Wiedeck als Adelgisa mit präziser Interpretation einer schwierigen Rolle, während die Charaktere der Norma und des Flavio schwebend und unklar bleiben.

Ein interessanter Abend zum Kennenlernen einer bemerkenswerten Frau. Jantje Hannover

Nächste Vorstellungen: von heute bis Sonntag, täglich 21 Uhr, Freunde der italienischen Oper, Fidicinstraße 40, 1/61