: Euro-Müdigkeit
Kohl drängt zur Eile in Maastricht, weil „wir sonst eine einmalige Chance für die Schaffung des geeinten Europas verpassen“. Es könnte Jahrzehnte dauern, bis so eine Gelegenheit wiederkommt. Kohl fürchte die Europa-Müdigkeit der Ostpolitiker in den eigenen Reihen, begründete Peter Glotz vor einiger Zeit im 'Spiegel‘ die Hast des Kanzlers. Dessen Begeisterung für die Westintegration könnte so übertrumpft und der Deutschen Unlust am eigenen Nationalismus gedämpft werden. Wie einfühlsam die Ostpolitiker dagegen argumentieren, zeigt ein im folgenden in Auszügen dokumentierter Artikel, den Chefideologe Herbert Kremp vor einiger Zeit in seinem 'Welt‘-Blatt schrieb:
Den Westen, die industriellen Herzstücke Europas politisch zusammenzufügen, war eine imposante Idee, eine Form der Behauptung gegen den sowjetischen Hegemonialanspruch und gegen das bipolare, amerikanisch-sowjetische Welt-Direktorium. Mit der Verbreitung der politischen Freiheit über Osteuropa verlor diese Idee das plausible machtpolitische Motiv. Dennoch weiterverfolgt, mußte sie zu einem europäischen Direktorium über das wiedervereinigte Deutschland degenerieren.
Mit dem werbenden Gedanken, die in Aussicht gestellte gesamtdeutsche Souveränität unverzüglich in die „Einigung Europas“ einzubringen, hat Bundeskanzler Kohl entscheidende Breschen in die Bedenken der europäischen Verbündeten, vor allem der Franzosen, geschlagen. Der Zweck der Europa-Politik, die über die Freihandelszone des Binnenmarkts hinausging, erfuhr dadurch aber eine tiefgehende Veränderung: Die im „Gen“ dieser Politik zu Beginn (in den fünfziger Jahren) stark ausgeprägte, dann aber abgeschwächte Bestimmung, Kontrolle über die Deutschen ausüben zu können, wurde mit dem Zurückweichen der Sowjetunion und mit der Wiedervereinigung zum niemals eingestandenen, aber beherrschenden Zweck EG-Europas.
Für ein Volk, in dessen postmateriellem Denken die Souveränität als harte Kategorie des 19.Jahrhunderts keine beherrschende Rolle mehr spielt, mag die materielle Zweck-Politik der anderen von geringem Belang sein. Man könnte kommentarlos zur Euro-Routine übergehen, wäre da nicht noch eine andere, womöglich fatale Nebenwirkung zu verzeichnen. Die „Vertiefung“, als die sich die Zernierung Deutschlands tarnt, zieht automatisch die Begrenzung der EG-Mitgliedschaft nach sich, mithin den Ausschluß Osteuropas. Man darf sich nicht durch die magischen „Assoziationsformeln“, die Brüssel den Polen, Ungarn und Tschechoslowaken auftischt, verwirren lassen. Das sind Placebos. Wenn sich statt dessen die Zahl der EG-Staaten wirklich von zwölf auf mehr als zwanzig ausweitete, würde der Ballon der Politischen Union wie unter Überdruck platzen. Dann bliebe, was für alle das Nützlichste ist: eine große, den Wohlstand verbreitende Freihandelszone.
Das genügt den Euro-Ideologen aber nicht. Denn mit der Beschränkung auf eine Freihandelszone Groß-Europa wäre der harte Zweck der Integration, die Kontrolle Deutschlands, aufgegeben. Was bedeutet dies aber, wenn darüber das große Ziel, die ökonomisch-politische Sicherung der jungen, osteuropäischen Freiheiten, verfehlt wird?
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