: Der Untergang der Lophophorenträger
■ Hals über Kopf finden sich ab heute 6.000.000.000 Jahre Evolution in 600 Quadratmeter Übersee-Museum gestaucht
Eine Darmzelle, hunderttausendfach vergrößert; Planetenmodelle; Ammonshörner in Muschelkalk; von bunten Schmetterlingen gar nicht zu reden: Dies alles hat uns die sog. Evolution eingebracht — und das Überseemuseum zeigt es uns jetzt, als Best Of 6.000.000.000 Years-Ausstellung sozusagen, auf ganzen 600 Quadratmetern.
Heute um 17 Uhr wird die neue Abteilung eröffnet; und ein wunderlicher Traum bewahrheitet sich: Noch der alte Museumsgründer Schauinsland hatte „die ganze Welt unter einem Dach“ gewollt. „Da dachten wir“, sagt jetzt vor der Presse der Insektenkundler Hohmann, „wir hau'n noch einen drauf und fangen beim Big Bang an.“
Hört sich bei solchem Übermut nicht eher alles auf? Vieles ist mühsam gestückelt worden, und im Hause spricht man von politischem Druck, der zur Übereilung gezwungen habe. „Politiker brauchen Eröffnungen“, sagt selbst Herr Hohmann, der lieber gewartet hätte, bis in einigen Jahren die zweite Hälfte der Ausstellung (Wirbeltiere aufwärts) fertig ist. So aber müssen wir, ohne Katalog oder sonst eine Hilfe, mit einem Torso vorlieb nehmen.
Ein erster Rundgang zeigt aber schon auch, was das Museum könnte, wenn es mal dürfte: Da sehen wir etwa aus buntem Plastik den riesenhaften Nachbau einer sekretorischen Darmzelle, bis ins Feinste genau. Allein an Fäden sind zwei Kilometer eingearbeitet und an Glaskügelchen 60.000 an der Zahl. Schaubilder sind allüberall gemalt, und viele Kästen sind säuberlich mit Mineralien ausgelegt. „Die hab ich alle aus dem Magazin geholt“, sagt Frau Kuster-Wendenburg, kommissarische Museumsleiterin,
Die Macht des Objekts im Übersee-Museum: Gaskugel plus ElektrifizierungFoto: Falk Heller
„und Herr Hohmann hat die Schmetterlinge dazugetan.“
Beide, die Geologin und der Insektenforscher, verantworten zusammen die Schau. Die Themen:
hierhin bitte das Foto
von der Kugel mit
Blitzen
Weltall, Atmosphäre, Pflanzen, die Zelle usw. Hat man da, wo die halbe Welt vermittelt werden will, etwa rechtzeitig didaktischen Rat eingeholt? „Nein“, sagt
Frau Kuster. Keine Fachleute diesbezüglich? „Wir sind Fachleute“, sagt Frau Kuster.
In der Tat. Lophophorenträger, liest man auf einer der zahllosen Tafeln, sind nur noch die Bryozoen und die Graptolithen. Und, wissen Sie, die Triaszeit überlebten außer den Linguliden nur noch die Rhynchonelliden und die Terebratuliden. Wer die Erkenntnis überlebt, spaziert en suite vorbei an den Hl. Reliquien der Schulbuchwissenschaft: 1 DNS-Doppelhelix im Modell, 1 Planetensystem (maßstäblich) und am Ende gar in Übergröße 1 Periodentafel der Elemente, die uns nun mal verfolgen wird ein Leben lang.
Die ganze Atmosphäre muß mit zwölf Wandmetern auskommen, die versteinerte Pflanzenhistorie hingegen deckt Wände über Wände mit Tafeln betreffend z.B. Zosterophyllen des Rheinischen Unterdevons (Zosterophylls of the Rhenish Lower Devonian).
Schon als vor ganzen vier Jahren die Planungen begannen, hatten Kritiker dem Übersee-Museum geraten, sich mit den eigenen Sorgen zu begnügen, zu welchen die globale sowie die galaktische und kosmische Naturgeschichte bislang nicht gerechnet worden sind. Jetzt ist von den insgesamt bewilligten 500.000 Mark schon ein guter Teil in Exponate verwandelt, betreffend dieses und auch jenes; die Lehrbuchtexte erschließen einem die
Die Hl.Reliquien der Schulbuchwissenschaft
Sammlung auch nicht so recht — und in all der Wirrsal wird vor allem eines den Sonntagsforscher reizen: die Evolution nämlich dieses Kompromisses aus Überhebung, Geldnot und Hast. Manfred Dworschak
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen