: Erfinden kann man nicht erfinden
Zwei Neuerscheinungen zum Konstruktivismus ■ Von Dirk Baecker
Sicher, der Konstruktivismus, der als Beobachtertheorie im doppelten Sinne des Wortes in den letzten Jahren in der Familientherapie, in der Unternehmensberatung und in der Soziologie immer weitere Kreise zieht, ist nicht erfunden worden, um deutsche Probleme zu lösen. Aber endlich einmal gilt der Satz: Wenn die Fakten mit der Theorie übereinstimmen, um so besser für die Fakten! Ob der Konstruktivismus allerdings den Herausforderungen gewachsen ist, die diese Fakten an ihn stellen, wird sich erst noch herausstellen müssen. Der Konstruktivismus ist eine kleine, flache, schlanke Theorie, die als Erkenntnistherapie daherkommt und scheinbar zwanglos in ethnische und ästhetische Fragen mündet. Wenn man sich vor Augen hält, welche Debatten gerade die Erkenntnistherapie, die Ethik und die Ästhetik immer wieder auslösen, kann nicht überraschen, daß einer Theorie, die einige wenige Denksperren beseitigt, einige wenige Ausgangsannahmen umformuliert und mit einem Minimalsatz an elementaren Aussagen auskommt, hier nichts zugetraut wird. Was allzu leicht aussieht, kann nicht stimmen. Und stimmen muß es doch, oder?
Es fehlt nicht an Literatur zum Konstruktivismus. Mit der Ausnahme des phänomenalen Buches über die Laws of Form von G. Spencer Brown sind viele Arbeiten von Heinz von Foerster, Gregory Bateson, Paul Watzlawick, Humberto R. Maturana, Ernst von Glasersfeld und Ranulph Glanville in deutschen Übersetzungen verfügbar, eine ganze Reihe von Sammelbänden dokumentiert die Diskussion. Wesentlich schwerer ist es, wiederzuerkennen, wie leicht es ist. Kein Konstruktivist würde das bedauern. Konsumierbaren Wahrheiten mißtrauen sie, weil sie wissen, daß sich harter Arbeit am eigenen Denken verdankt, was leicht daherkommt. Wer schnell versteht, hat nichts verstanden. Aber ebenso würden sie dem Wissen mißtrauen, das nur den feinen Unterschied des Gebildeten markiert oder dem Wissenschaftler erlaubt, jenen Abstand zu sich zu gewinnen, den er allen anderen vorenthält.
Zwei Festschriften kommen in dieser Situation gerade recht, Quereinstiege zu ermöglichen, Tonfälle zu prüfen, sich verführen zu lassen, modischen Effekten nachzuspüren, ins Rätseln zu geraten. Die erste Festschrift ist Carl Auer gewidmet, einem der großen Alten des Konstruktivismus, dessen HauptwerkBetween Fear and Sex immer noch nicht ins Deutsche übersetzt ist. Sein Einfluß ist bei allen Konstruktivisten zu spüren, sein Sprachwitz fast allen Vorbild. Wer in dieser Festschrift liest, wird daher mit allem bekannt, was Jongleuren der Beobachtung teuer sein kann. Ernst von Glasersfeld beschreibt, wie Carl Auer die gesamte abendländische Philosophie auf ihren fernöstlichen Punkt brachte: „Die lange Leiter eurer Schlüsse stuft sich zwischen Nichts und Nichts“, und seinen eigenen Kernsatz dagegensetzte: „Solange man den Kreis schließen kann, hat man sich nicht verirrt.“ Helm Stierlin schildert einen Spaziergang in der Nähe von Heidelberg vor vielen Jahren, bei dem er jemandem begegnete, den er für Carl Auer hielt und der in ein einziges Bild die Misere des Menschen faßte: „Schauen Sie sich an, was der Mensch aus dem Hund gemacht hat, und Sie wissen, was für ein Mensch der Mensch ist.“ Sprach's und zog, den Widerspruch genießend, mit seinem Hund seines Weges. In den Beiträgen zur Carl- Auer-Festschrift ist viel von Erfindungen die Rede. Aber noch mehr von der Welt, die wir hervorbringen, indem wir sie beobachten, und die uns hervorbringt, indem sie sich von uns beobachten läßt. Viel ist davon die Rede, daß Beobachtungen an den Dingen entlang- und nicht über sie hinweggehen sollten. Viel ist davon die Rede, daß die Ethik eines Konstruktivisten darin besteht, anderen die Gelegenheit zu geben, ihre eigene Welt zu konstruieren. Und davon, daß wir für unsere Hervorbringungen selbst verantwortlich sind — und das duckt uns nicht den Nacken, sondern öffnet uns die Augen.
Heinz von Foerster, der in diesem Herbst 80 Jahre alt geworden ist, ist die zweite Festschrift gewidmet, ein wahres Kompendium all dessen, was einen Konstruktivisten beschäftigen kann. Jeder der Beiträge dokumentiert, mit welchen bis heute noch nicht verarbeiteten Ergebnissen Heinz von Foerster Grundannahmen der wissenschaftlichen Weltkonstruktion aufs Korn genommen hat. Der Elefant ist längst erlegt, er weiß es nur noch nicht. Einstein zeigte, daß Beobachtungen zum Standpunkt des Beobachters relativ sind. Heisenberg zeigte, daß der Beobachter stört, was er sieht, also niemals sieht, was er nicht stört. Von Foerster geht darüber noch hinaus und zeigt, daß es Beobachtungen ohne einen Beobachter gar nicht gibt. Trivial? Eben!
Was folgt daraus? sind wir gewohnt, sofort zu fragen. Wir wollen ja Schlüsse ziehen. Unser Drang, der Wahrheit näherzukommen, ist so stark, daß wir gar nicht merken, wenn wir an ihr vorbeikommen. Besser könnte man sie gar nicht schützen. Viele der Beiträge in dem von Foerster gewidmeten Band kämpfen dann auch heroisch mit dem Problem, wie man sich der Wahrheit nähert, wenn man sie in Händen hält. Mauro Ceruti gerät in eine herrliche Träumerei, in der in 13 Punkten alle, wirklich alle Fragen Revue passieren, die die Wissenschaft in den vergangenen 200 Jahren an ihren Grundlagen ins Zweifeln geraten ließ. Niklas Luhmann zeigt, daß man am besten beobachten kann, was andere nicht beobachten können, wenn man auf die Unterscheidungen achtet, die sie verwenden. Denn die Unterscheidung ist der blinde Fleck des Beobachters. Soziologisch brisant wird das, wenn man untersucht, in welche Schwierigkeiten Beobachter geraten, wenn ihre Unterscheidungen zusammenbrechen: Wenn der Marktwirtschaft kein Sozialismus mehr gegenübersteht, entdeckt sie die Planwirtschaft in sich selbst. Wenn die Gesellschaft ihre Semantik nicht mehr an der Unterscheidung zwischen nützlich und ehrenhaft, sondern zwischen nützlich und nutzlos orientiert, landen der ehrbare Adel und die ehrbaren Mönche plötzlich auf der Seite des Nutzlosen. Wenn sie keine Unterscheidung findet, die ihr Halt gibt, kann nichts sie retten.
Einige haben es immer schon geahnt, Jean-Pierre Dupuy und Francisco Varela gehen dem Verdacht jetzt nach: Der Konstruktivismus und die Dekonstruktion haben mehr miteinander zu tun, als Themen, Tonfall und Lieblingsautoren vermuten lassen. Die „Logik der Ergänzung“, die Jacques Derrida entfaltet, um vorzuführen, daß das, was große und kleine Philosophien abwerten, um es auszuschließen, tatsächlich dasjenige ist, was diese Philosophien erst ermöglicht. Die Logik der Ergänzung ist ein Zug innerhalb der Logik der Selbstreferenz, auf die der Konstruktivist sein ganzes Vertrauen setzt. Die klassische Logik ist die Logik des eingeschlossenen Dritten — und der Konstruktivismus, der es sich mit keinem Beobachter verderben will, arbeitet an der Logik des eingeschlossenen ausgeschlossenen Dritten. Heinz von Foerster wird seinen Spaß daran haben.
Aber nicht nur er. Auch unser Stasi-Problem ist genauso zu formulieren: Wir konnten es nur ausschließen, solange die Mauer existierte. Nie waren die innerdeutschen Beziehungen auf beiden Seiten besser. Der Versuch, es einzuschließen und zu vergessen, wird mißlingen. Wir würden krank daran. Aber eine Methode, es einzuschließen und auszuschließen zugleich, ist noch nicht gefunden. Genau darauf käme es an. Das wäre eine preiswürdige Erfindung — aber erfinden kann man sie nicht. Die Konstruktivisten, die Beobachter der Beobachter, werden es erst dann merken, wenn eine hilfreiche Unterscheidung gefunden ist. Sie können dann den Preis verleihen.
Gunthard Weber und Fritz B. Simon (Hrsg.): Carl Auer: Geist or Ghost. Merkwürdige Begegnungen , zweisprachige Ausgabe deutsch/englisch, Carl Auer Verlag, Heidelberg, 289 Seiten, 46DM
Paul Watzlawick und Peter Krieg (Hrsg.): Das Auge des Betrachters: Beiträge zum Konstruktivismus , Piper Verlag, 278 Seiten, 39,80DM
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