: Alle Macht den Räten — die Euro-Demokratie
Kurzer Leitfaden durch das europäische Dickicht vor dem EG-Gipfel in Maastrich/ Was hat es mit der Politischen Union auf sich/ Staatenbund oder Bundesstaat? Kohl oder Major? Einstimmig oder mehrstimmig? Und dazwischen die Euro-Parlamentarier — machtlos im Wanderzirkus ■ Aus Brüssel Michael Bullard
„Brüssel ist nicht zu verkaufen“, prangt auf einem leuchtend rot-weiß- gestreiften Plakat. Der Protest hat nicht viel geholfen. Denn die meisten der älteren Häuser im Brüsseler EG- Viertel stehen leer und warten auf die Abrißbirne. Rund um das Zentrum europäischer Macht dröhnen Bagger und Raupen um die Wette. Überragt wird das urbane Schlachtfeld von den drei Pfeilern der Europäischen Gemeinschaft: dem Gebäudekomplex des Europäischen Parlaments, der schmucklosen Residenz des Europäischen Rats und dem asbestverseuchten Hochhaus der EG-Kommission. Daneben wachsen im Rekordtempo neue Bürosilos.
Großbaustelle Europa
Von einigen Brüsseler Bürgerinitiativen abgesehen, hat bislang kaum jemand an dem kostspieligen Treiben Anstoß genommen. Schließlich versinnbildlicht die Großbaustelle die rasante Dynamik der Europäischen Gemeinschaft: In 390 Tagen wollen sich die zwölf EG-Länder zu einem gemeinsamen Binnenmarkt zusammenschließen. Nicht nur um die Herstellung gleicher Konkurrenzbedingungen geht es dabei, betont der Präsident der EG-Kommission, sondern um die Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsraumes mit eigener Zentralbank und Währung. Die EG-Architekten wollen aber auch gleich noch die politische Generalüberholung bewerkstelligen: Ein föderaler Staat, so Jacques Delors' Traum, soll entstehen.
Das Fundament dazu wollen die zwölf Staats- und Regierungschefs mit den Verträgen zur Wirtschafts- und Währungsunion sowie zur politischen Union Anfang nächster Woche im holländischen Maastricht legen. Allerdings konnten sie sich bislang nicht auf einen gemeinsamen Bauplan einigen: Staatenbund oder Bundesstaat ist die europäische Seinsfrage. Letzterer ist vor allem wegen der damit verbundenen Aufgabe staatlicher Souveränität nicht zuletzt in der Außen- und Sicherheitspolitik umstritten. Besonders schwer tun sich die Bauherrn auch mit der Beseitigung des sogenannten „Demokratiedefizits“ in der Europäischen Gemeinschaft. Schon heute werden etwa die Hälfte aller Gesetze, mit denen sich der Bundestag beschäftigt, nicht etwa von den Euro-Parlamentariern, sondern von den diversen EG-Ministerräten in Brüssel oder Luxemburg beschlossen.
Geheimpolitik der Chefbeamten
Eröffnungsfeier im neuen Gebäude der „ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei den Europäischen Gemeinschaften“: Dröhnender Jazz empfängt die Journalisten in der marmornen Eingangshalle. Der Neubau war vergangenes Jahr nötig geworden, weil das alte Gebäude aus allen Nähten platzte. Schließlich sind in der Botschaft über hundert Leute damit beschäftigt, die deutschen Interessen in den EG-Institutionen zu vertreten. Auch die anderen Mitgliedsregierungen verfügen über solche Kommandostellen im Brüsseler EG-Viertel. Beamte aus den verschiedenen Ministerien bereiten dort vor, was ihre Chefs, die Botschafter bei der EG, dann in wöchentlichen Sitzungen fernab der Öffentlichkeit zur Entscheidungsreife bringen. Weil die Abstimmung zwischen den nationalen Bürokratien jedoch noch häufig hakt, sollen in Maastricht Maßnahmen beschlossen werden, die die Reibungsverluste verringern und die Kompetenzen der Diplomaten erweitern. Resultate dieser Zwölfer-Treffen sind sogenannte Non-Papers. Diese „Nicht- Papiere“ werden als geheim behandelt, solange sie nicht von den Ministerräten abgesegnet sind.
Wenige Straßen weiter: das Charlemagne-Gebäude, die Zentrale des Ministerrats. Mal sind es die Außenminister, mal die Wirtschafts- oder Umweltminister, die hier hinter verschlossenen Türen beschließen, was alsbald EG-weit Gesetz wird. Daß sie mit ihrem Tun dem Grundsatz der Gewaltenteilung ein Schnippchen schlagen, der sonst bürgerliche Demokratien auszeichnet, ist längst EG-Alltag. Denn fast wöchentlich vollzieht sich hoch über den Wolken Brüssels eine Metamorphose besonderer Art. Die Minister heben in Bonn, Paris oder London als Vertreter der nationalen Exekutiven ab — und landen wenig später in Brüssel als EG-Gesetzgeber.
Als solche sind sie allerdings bislang nur zuständig für Bereiche wie den Binnenmarkt, die Außenwirtschafts-, Umwelt- und Teile der Sozialpolitik. Die wichtigsten Aspekte der Innenpolitik wie Asylfragen, Zusammenarbeit der Polizei und Gewerkschaftsrechte sind ebenso wie die Außen- und Sicherheitspolitik den nationalen Entscheidungsinstanzen vorbehalten. Die Abstimmung der Zwölf in diesen Fragen findet abseits der EG-Institutionen in separaten Gremien statt: Die Innenpolitik wird in der Trevi-, die Außenpolitik in der GASP-Gruppe koordiniert. So nennen sich die locker institutionalisierten, bislang jedoch außerhalb der Römischen Verträge stattfindenden Dauertreffen der Außenminister, die meist in nichtssagenden „gemeinsamen Erklärungen“ enden.
Auf EG-Ebene treffen sich die zwölf Fachminister je nach den anstehenden Fragen unter sechsmonatlich rotierendem Vorsitz. Entschieden wird bei wichtigen Themen mit Einstimmigkeit, bei Binnenmarktfragen und einigen anderen Streitpunkten mit qualifizierter Mehrheit. Weil dieser Entscheidungsprozeß im Vergleich zu dem der Konkurrenten USA und Japan noch zu schwerfällig und langwierig ist, drängen die meisten Regierungen auf Reform. Die weitestgehenden Forderungen stellt Bundeskanzler Helmut Kohl: Ausweitung der EG-Kompetenzen und parallel dazu der Mehrheitsabstimmungen auf möglichst alle Bereiche, vor allem auf die Außen- und Sicherheitspolitik. Dagegen verwahren sich vor allem die Briten. Sie wollen lediglich zulassen, daß in Bereichen wie der Umwelt- oder Konsumentenpolitik in Zukunft mit Mehrheit abgestimmt werden kann. Eine darüber hinausgehende Ausweitung der EG- Kompetenzen lehnt der britische Premierminister John Major vehement ab.
Motor der Gemeinschaft?
Pressekonferenz im Berlaymont- Gebäude: Täglich um 12 Uhr mittags verkünden hier die diversen Pressesprecher die neuesten Beschlüsse der 17 Kommissare und ihrer rund 16.000 Mitarbeiter. Das Angebot reicht von der Richtlinie über die richtige Apfelgröße bis hin zur Ankündigung, daß das europäische Eisenbahnnetz privatisiert werden soll. Die Zahl der Kommissare soll auf zwölf verringert, ihre Kompetenzen dafür erweitert werden. Die EG-Behörde wird häufig als Motor der Gemeinschaft bezeichnet, weil ihr die Aufgabe zufällt, den Haushalt der EG zu verwalten, Gesetzesvorlagen zu produzieren und die Durchführung der vom Ministerrat erlassenen Beschlüsse zu überwachen. Wenn dies nicht passiert — und dies ist oft der Fall —, kann sie die Regierungen vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) verklagen.
Volksvertreter im Wanderzirkus
Durch zwei fünfspurige Einfallsstraßen von den Bürosilos der Kommission und des Rats getrennt, wuchert der Gebäudekomplex des Europäischen Parlaments. Hierher reisen die Euro-Parlamentarier zweimal im Monat, um an den Ausschuß- und Gruppensitzungen teilzunehmen, während sie zu den Plenumstagen ins Straßburger Europaparlament jetten. In Luxemburg schließlich ist der größte Teil der Parlamentsverwaltung untergebracht. Dieser aufwendige Wanderzirkus soll eingestellt werden. Dazu müßten sich die EG- Chefs allerdings auf einen Standort einigen. Um die Wahl zu beeinflussen, lassen vor allem die beiden Hauptkontrahenten Brüssel und Straßburg neue Gebäude bauen, ohne zu wissen, ob sie jemals ihren Zweck erfüllen werden.
Nach den Wahlen 1994 werden auch die fünf neuen Bundesländer, die bislang nur 18 „Beobachter“ entsenden dürfen, neben ihren 518 Kollegen und Kolleginnen im Europaparlament vertreten sein. Sie werden auf fünf Jahre gewählt und haben die Aufgabe, die Gesetzesvorlagen zu prüfen und gegebenenfalls zu ergänzen, bevor sie vom Rat beschlossen werden. Seit der 1987 beschlossenen EG-Reform haben sie im Rahmen des sogenannten „Kooperationsverfahrens“ zumindest in Binnenmarktfragen weitergehende Ergänzungs- und Einspruchsrechte. Außerdem teilen sie sich mit dem Ministerrat die Entscheidungsgewalt über einen Teil des EG-Budgets. Ausgenommen sind die Agrarausgaben, die über 60 Prozent des Haushalts ausmachen.
Das „Kooperationsverfahren“ soll, so der Vorschlag der holländischen EG-Präsidentschaft, in Maastricht auf Rahmengesetze in den Bereichen Entwicklungshilfe und Umweltschutz, Forschung und Erziehung, Gesundheit und Soziales ausgedehnt werden. Das wird von der britischen Regierung allerdings abgelehnt. Grundsätzlich von den Abgeordneten ferngehalten werden sollen Entscheidungen über die Asyl-, Außen- und Sicherheitspolitik. Auch der Haager Vorschlag räumt den Parlamentariern in diesen Fragen lediglich Konsultationsrechte ein. Immerhin sollen sie jedoch bei der Benennung des Kommissionspräsidenten in Zukunft mitreden dürfen; das Recht, ihn samt seiner Truppe zu entlassen, haben sie jetzt schon.
Lösung auf drei Säulen?
Statt also, wie es Kohl und Delors gerne hätten, die EG in eine europäische Föderation mit bald 20 oder sogar 22 Mitgliedsländern umzuwandeln, favorisiert eine Mehrheit der EG-Regierungen die Drei-Säulen- Lösung: der Binnenmarkt, die Außenwirtschafts-, Umwelt- und Sozialpolitik fällt weiterhin unter die Ägide der EG, in der Entscheidungen in Zukunft öfters mit Mehrheit möglich sind; die Außen- und Sicherheitspolitik hingegen bleibt innerhalb der stärker an die Gemeinschaft angelehnten zwischenstaatlichen Zusammenarbeit (GASP). Als dritte Säule ist eine engere Kooperation der Innenminister und ihrer Polizeiapparate auf dem Felde der Drogenbekämpfung und Immigrationspolitik vorgesehen.
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