KOMMENTAR: Zeit für die UNO
■ Die Kurden-Frage darf nicht dem US-amerikanischen Wahlkampf-Kalkül unterliegen
Man hört — und staunt: Der US-Kongreß hat die Kurden wieder entdeckt. In Washington denkt man gar laut über eine Unterstützung der kurdisch-irakischen Opposition nach — bis hin zu Waffenlieferungen an die Peshmerga. Tatsächlich könnten die Alarmzeichen deutlicher nicht sein: Mindestens 200.000 Kurden sind seit Oktober aus Angst vor dem irakischen Militär aus ihren Städten und Dörfern geflohen. Ihnen steht möglicherweise ein tödlicher Winter bevor. Zudem droht ein Ende des ohnehin spärlichen militärischen Schutzes durch die Alliierten. Deren Abkommen mit der Türkei über die Stationierung von Luftwaffeneinheiten, die regelmäßig nordirakisches Territorium überfliegen, läuft am 28.Dezember aus. Eine Verlängerung ist unklar.
Allerdings hat die plötzliche Sorge gerade demokratischer Politiker um das Schicksal der Kurden sehr viel mit amerikanischer Innen- und sehr wenig mit deren Außenpolitik zu tun. Man befindet sich im Vorwahlkampf. Am Lack des amtierenden Präsidenten ist aufgrund der sozialen und wirtschaftlichen Misere bereits kräftig gekratzt worden. Was liegt da näher, als nun auch seine Reputation als Golfkriegssieger anzugreifen und mit dem Finger auf den wunden Punkt der US-Politik gegenüber dem Irak zu zeigen: Der heißt Saddam Hussein, ist immer noch an der Macht und droht zum zweiten Mal in diesem Jahr unter den Kurden einen Genozid anzurichten.
Der innenpolitische Druck seitens der US-Demokraten paßt zudem gar nicht ins außenpolitische Drehbuch der Bush-Administration, die die Rolle des Weltdämonen, den man offenbar braucht, gerade von Saddam Hussein weggenommen wieder an den libyschen Staatschef Gaddafi zurückzugeben hat.
Diese innenpolitische Konstellation macht die USA in der neuen Eskalation zwischen den Kurden und Bagdad zu einem äußerst unberechenbaren Akteur. Gerade deshalb dürfen neue Aktionen zum Schutz der Kurden nicht wieder unter der Regie Washingtons, sondern müssen der UNO unterstehen. Die ist bislang in Gestalt von schlecht ausgerüsteten und zahlenmäßig unterbesetzten „Beobachtern“ eher erbärmlich aufgetreten — und hat damit dem Diktator in Bagdad signalisiert, daß es die UNO so ernst mit dem Schutz der Kurden nicht meinen könne.
Jetzt muß die UNO die Initiative ergreifen, will sie nicht für ein Déjà vu des Elends in diesem Winter mitverantwortlich sein. Was für Jugoslawien, wenn auch viel zu spät, vorstellbar geworden ist, nämlich Blauhelme zu entsenden, muß in Irakisch- Kurdistan sofort geschehen — bevor es noch einmal zu spät ist. Andrea Böhm
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