: Städte: Gebaut — und verloren
■ Berlin und Potsdam in alten Photographien: Max Missmann, Max Baur und historische Meßbildaufnahmen
Mit der Wiedervereinigung kam auch die Sehnsucht wieder. Die Sehnsucht der Alten und Jungen, das Bild eines Landes wiederauferstehen zu sehen, das sich selbst in Schutt und Asche manövriert hatte, aber diese hausgemachte Untat nicht wahrhaben will — die Sehnsucht, verschwommenen Auges, also auch gleich wieder ertränkt. Auch die nachfolgenden Stadtzerstörungen durch Denkblockaden im Kopf, durch Duldung der Macht von kapitalen Einzelinteressen und vor allem durch die Prioritätensetzung des motorisierten Individualverkehrs sind aus eigenem Hause.
Es gilt allemal wieder, das Verlorengegangene nicht ganz aus den Augen zu verlieren, sondern es zum Maßstab für das Neue zu nehmen. Das schließt wirklich Neues (als stadträumliche und als architektonische Leistung) nicht aus, es hat sich vielmehr gegenseitig zu ergänzen, zu artikulieren. Daß es aber hierzulande immer noch und wieder Menschen gibt, die zum Beispiel den Wiederaufbau des Schlosses in der Berliner Stadtmitte fordern — das ist schon recht dumm, wenn es auch zur Lage paßt.
Alle Argumente des Dafür und Dagegen abzuwägen, soll hier nicht Gegenstand sein. Es geht vielmehr um den Hinweis auf die Möglichkeiten der Wiederentdeckung dessen, was weg, kaputt und verloren ist. Dabei geht es darum, den Maßstab neu zu gewinnen für das, was als gestalterische Aufgabe vor uns, den Stadtplanern und Architekten liegt.
Gerade beim Stadtschloß wird immer wieder die Argumentation ins Feld geführt, man könne die (verlorenen) stadträumlichen Proportionen des gesamten Bereiches von den Linden bis zum Alexanderplatz erst mit dem Schloß selbst wiederherstellen. Genau das aber ist falsch: Es sind nicht die barocken Architekturelemente wie Säulenschäfte, Ornamente und Putten, die diese Proportion herstellen, sondern es ist der von den stadträumlichen Fluchtlinien bestimmte Standort des Baukörpers mit seinen (dreidimensionalen) Abmessungen, mit seiner Oberfläche und ihren Verhältnissen von Wandfläche zu Öffnungen.
Genau dieses inszenierte Zusammenspiel hat die Qualität und den Reiz auch der Städte Potsdam und Berlin ausgemacht — das war ein Stück Stadt-Bau-Kunst; und zwar das, das vielerorts nicht mehr angewendet wird. Die jeweiligen Architekten, Baumeister und Stadtbauräte haben auf die vorhandene Bebauung immer reagiert, diese in ihr Maßsystem einbezogen und eben somit nur ergänzt, obwohl man Neues schaffte. Die Zeugnisse, die uns dieses Zusammenspiel und dieses Reagieren immer wieder vor Augen führen, bestehen vor allem aus Filmen und Photographien — wenn es nicht die letzten unzerstörten Quartiere selbst sind: diejenigen, die von den gewaltsamsten Zerstörungen verschont wurden.
Photographische Zeugnisse studieren, auf ihnen Bekanntes und Unbekanntes suchen und wiedererkennen bzw. -finden: das kann — neben der Sehnsucht — auch den Blick schärfen helfen für dieses noch nicht ganz Verlorene, aber doch Verborgene.
Erinnerungshilfe Buch
Drei neue Publikationen geben jetzt Gelegenheit, an dieser Scharfeinstellung von Stadtraum weiterzuarbeiten: Das große Berlin mit Photographien von Max Missmann, Das alte Potsdam mit Photographien von Max Baur und Potsdam um Neunzehnhundert mit 100 Meßbildaufnahmen der Königlich-Preußischen Sammlung.
Die Bücher sind mit kurzen Einleitungen/Einführungen versehen — es gibt allerdings auch kleine Ärgerlichkeiten und unnütze Halbwahrheiten. Wenn es in dem Buch über Potsdam heißt, daß diese Stadt beinahe untergegangen sei, »durch Bombenterror und vierzig Jahre Mißwirtschaft« — dann sind wieder mal andere Schuld an den Zerstörungen während des Zweiten Weltkrieges: als Folge wovon, das wird uns vorenthalten beziehungsweise verschwiegen. Kinn- und Kopfkraulen stellt sich auch bei solchen Feststellungen ein: »Der überzeugte Gegner der Nationalsozialisten, nie Parteimitglied geworden, wurde neben vielem anderen auch Chefphotograph von Albert Speer. Max Baur konnte so auch die Wilhelmstraße in Berlin und vor allem die Reichskanzlei innen und außen der Nachwelt dokumentieren.« Das mag ja stimmen — aber der andere Satz fehlt eben! (Alle diese deutschen Feststellungen in allen deutschen Nachkriegspublikationen zusammengezählt, ergibt das die andere deutsche Feststellung, daß es in den Jahren von 1933—1945 in den Parteihochburgen und -gebäuden der Nazis von unauffällig sich bewegenden Antifaschisten und Widerstandskämpfern nur so gewimmelt haben muß — ganz Deutschland war sowieso irgendwie das größte Widerstandsnest gegen die Nazis...)
Fotografen als Zeugen
Max Missmanns »großes Berlin« ist mit einem einleitenden Essay von Wolfgang Gottschalk versehen, in dem das Leben Missmanns und das Schicksal seiner photographischen Sammlung beschrieben ist. Die photokünstlerische Qualität der Arbeiten Missmanns haben wir schon anläßlich des Erscheinens seines Buches über Berliner Bahnhöfe beschrieben (siehe taz vom 1.11.1991) und auch die Art seiner Vorgehensweise: Er sucht meist den erhöhten Standpunkt und liefert so Panoramen, die den oben beschriebenen Zusammenhang der einzelnen Teile des Stadtraumes erkennen lassen.
Max Baur nimmt dagegen eher den flanierenden, romantischen Blick zum Anlaß, auf den Auslöser zu drücken, wozu wahrscheinlich Potsdam eher animierte als die hektische, expandierende Weltstadt Berlin im Falle Missmanns. Fahrende Autos scheint es in Potsdam nicht gegeben zu haben, was die Sehnsucht nach autofreien Straßen allerdings nährt. Baur hält es auch eher mit den Standorten und Gebäuden der Monarchie: die alte Stadtvedute mit mindestens einem Schloß oder Pavillon ist vorherrschend; aber das ist nicht verwerflich. Potsdam war nun mal das Lieblingskind preußischer Herrscher.
Das Meßbild-Verfahren
Das Buch Potsdam um Neunzehnhundert bildet Photographien aus der Sammlung von Meßbildern der Königlich-Preußischen Meßbildanstalt ab. Das Meßbildverfahren wurde von Albrecht Meydenbauer (1834—1921) entwickelt, nachdem er bei Aufrißarbeiten des Doms zu Wetzlar beinahe tödlich verunglückt wäre.
Seine forschende Frage: »Kann das Messen von Hand nicht durch Umkehren des perspektivischen Sehens, das durch das photografische Bild festgehalten wird, ersetzt werden?« war Antrieb für die Erfindung der »Photogrammetrie, eines Verfahrens zu Bestimmung von Form, Größe und Lage von Objekten aus photographischen Bildern. Neben der allseitigen lichtbildnerischen Aufnahme des darzustellenden Objekts und einer örtlichen Vermessung zählte vor allem die abschließende graphische beziehungsweise rechnerische Verarbeitung zu den erforderlichen Arbeitsgängen.« (Buchzitate) Heute dienen vor allem solche Aufnahmen zur möglichst originalgetreuen Rekonstruktion zerstörter Gebäude.
Die in den genannten Büchern wiedergegebenen satten, in multiduotonalem Verfahren gedruckten Photos von normalen Stadt-, Straßen- und Parksituationen geben unvoreingenommen und unfreiwillig die verlorene und nur mehr schwer nachvollziehbare Qualität und Schönheit der Städte Potsdam und Berlin wieder — versehen meist mit ausgesprochen langen und informativen Bildlegenden, die die Geschichte des Ortes zu »lesen« helfen.
Bücher zur Vorweihnachtszeit, für die sonntäglichen Nachmittagsstunden bei Tee und Gebäck unter gelbem Lampenschein — einzuschieben zwischen die dicken Romane: Als Suchbilder und Augenreibmittel, aber auch als Wutakkumulatoren gegen jene, die für die Zerstörungen verantwortlich sind. Gestern wie heute. Martin Kieren
(Der Autor ist Architekt und war zuletzt bei der Berliner Institution »stattbau« als »Hausforscher« tätig. d.Red.)
Das alte Potsdam , Photographien von Max Baur. Herausgegeben und mit Bilderläuterungen versehen von Klaus Arlt und mit einem Essay von Wolfgang Schulz, 117 Seiten, Potsdamer Verlagsbuchhandlung, 68,-DM
Das große Berlin , Photographien von Max Missmann 1899—1935. Herausgegeben von Wolfgang Gottschalk, 151 Seiten, Argon Verlag, 68,-DM
Potsdam um Neunzehnhundert. Herausgegeben von Richard Schneider, 100 Meßbildaufnahmen, 112 Seiten, Nicolaische Verlagsbuchhandlung, 68,—DM
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