: Da reichen dreizehn Zeilen
Wie in Glasgow das Theater direkte Lebenshilfe leistet ■ Von Thomas Langhoff
Als ich zum ersten Mal nach Glasgow reiste, sah ich nicht viel. Ich erinnere mich an das rostige Braun, das an den Betonwänden der motorways klebte. Ich erinnere mich an eine Kirche, die am Rand der M8 auf einem Hügel stand. Das natürliche Grün des Grases erschien im verregneten Vorabendlicht grau. Als ich die Kirche erreichte, lag Glasgow schon hinter mir und die Autobahn würde bald in Richtung Süden schwenken, nach England. Damals, vor zehn Jahren, hielt niemand freiwillig in Glasgow.
Vom George Square gehe ich die zum Ufer des River Clyde abfallenden Straßen herunter und überquere die Victoria Bridge. Eine Kreuzung weiter, und ich sehe hinter einer Glasfassade vier Statuen posieren. Ich erinnere mich an alte Fotos aus den siebziger Jahren. Damals standen die Statuen noch ungeschützt auf dem Dach des viktorianischen Gebäudes, und unter ihnen, auf einem an die Fassade gehängten Stoffbanner, prangten vulgäre Lettern: „All Seats 50p“.
Das Citizen-Theater zeigt Man and Superman von George Bernard Shaw. Es gibt kein Programmheft, sondern nur ein Faltblatt, das genau 13 Zeilen für Werk und Leben Shaws verschwendet. Das gefällt mir. Ich werde bleiben.
Als englische Landherren die Kleinbauern aus den Highlands vertrieben, um das Land für Schafzucht zu nutzen, strömten Tausende an die Clyde und suchten sich in den Werften und Webereien Arbeit. Damals brachten Schiffe aus Afrika und Amerika Baumwolle und Tabak. Später, im 19. Jahrhundert, sollte Glasgow das Empire mit Kohle, Eisen und Stahl versorgen. Die Stadt war reich.
Heute liegen die großen alten Industrien brach. Die Öltürme vor der Küste ernähren nicht viele. Mit 170.000 Sozialwohnungen führt Glasgow im europäischen Vergleich. In den Schemes, wie die riesigen, von normalen Wohnvierteln getrennten Siedlungen heißen, sind nie weniger als 20 Prozent ohne Arbeit.
Ein Sonderfall der britischen Theaterszene
Als sei dies der einzig mögliche Ort für ein Theaterhaus, liegt das „Citizen“ inmitten der Schemes am Südufer der Clyde. Die desolaten Wohntürme kennt man auch noch weit außerhalb Glasgows als die „Gorbal“- Slums. Als Mitte des letzten Jahrhunderts von englischer Wirtschaftspolitik provozierte Hungersnöte Irland entvölkerte, flohen viele Emigranten nach Glasgow und machten die Gorbals zu den elendsten Slums Europas.
Das Citizen gilt als eine der besten Bühnen Großbritanniens. Als James Bridie 1943 die Citizens Company gründete, träumte er von einem Schottischen Nationaltheater: Seine Bühne sollte schottisches Theater für schottische Zuschauer machen.
Auf den ersten Blick erinnert heute nichts mehr an Bridies Nationaltheater: Nicht schottische Autoren, sondern europäische Klassiker stehen auf dem Spielplan. Als Giles Havergal, Philip Prowse und Robert MacDonald vor 1970 das Citizen übernahmen, rissen sie die kränkelnde Bühne mit einer spektakulären Hamlet-Inszenierung aus der Krise: Ein paar Jugendliche hüpften nackt über die Bühne und kreischten den heiligen Text aus sich heraus.
Mit dieser Produktion schlug sich das Citizen den Weg frei für eine abenteuerliche Reise durch die nächsten zwei Jahrzehnte: In der De Sade Show (1976) tanzen und kopulieren Bischöfe, Transvestiten und zerfetzte Leichen, deren Hälse in juwelenbehängten Hundeketten hängen. Chinchilla (1977) feiert auf einer ganz in weiß gehaltenen Bühne homoerotische Phantasien. Schwarzes Leder, vergoldete Spiegel und Peitschen tauchen Genets Der Balkon (1982) in die Atmosphäre Pariser Dekadenz.
Die respektlose Frivolität, mit der das Citizen die Klassiker des Theaters und der Literatur (unter anderen Balzac, Tolstoi und Proust) in laszive Spektakel verwandelt, verstört naturgemäß diejenigen, die demutsvolle Texttreue verlangen. Philip Prowse, dem man regelmäßig vorwirft, das Citizen als Schlachthaus zu mißbrauchen, kümmert die Kritik nur wenig: „Manchmal schau' ich auf Textbearbeitungen zurück und denk' mir: ,Das war wirklich eine elegante und chirurgische Schlachterei‘; ein anderes Mal: ,Das war wohl ein ziemlicher Scheißdreck‘. Der Text ist nicht heilig, und der Autor ist nur ein Teil der Show. Da gibt es Schauspieler, da gibt es Worte, da gibt es das Bühnenbild, da gibt es Licht, und da gibt es das Publikum. Die einzigen wichtigen Akteure im Theater sind die Schauspieler und das Publikum. Auf die anderen kann man verzichten.“
Nicht nur die bilderverliebte Exzentrik der Inszenierungen, sondern auch die Finanzpolitik macht das Citizen zum Sonderfall der britischen Theaterszene: Die Jahresbilanzen weisen nie mehr als 15.000 Mark Schulden auf, alle Mitarbeiter, ob Regisseur oder Platzanweiser, verdienen 650 Mark pro Woche. Rentner und Arbeitslose kommen noch immer umsonst ins Theater. Auf Umwegen trifft sich das betont europäische Citizen so doch wieder mit James Bridies Nationaltheater — Philip Prowse: „Unsere Arbeit ist vollkommen verfügbar. Und das war und ist noch immer revolutionär. Die Subventionen zu nehmen und sie tatsächlich für das Publikum auszugeben, die Arbeit verfügbar zu machen, ein weites und nicht gönnerhaft beschützendes Repertoire europäischer Klassiker zu präsentieren und nicht zu sagen ,Oh, die sind nur Arbeiterklasse, die können das nicht verstehen‘ — das ist revolutionär.“
1.000 Jahre versuchter Ausrottung
Die beiden älteren Damen neben mir amüsieren sich prächtig. Besonders gefällt ihnen das kleine Modellauto, daß durch die Märklin-Landschaft des Man and Superman-Bühnenbildners Julian McGowan fährt. Die Tricks der Illusion liegen offen, und niemand müht sich mit naturalistischen Verrenkungen ab. Ja, wir kommen oft hierhin und fahren dafür aus weit entfernt liegenden Vororten in die Gorbals, sagen die beiden Damen. Wer Shaw war, interessiert sie nicht die Bohne, da reichen 13 Zeilen.
1970 gründeten David MacLennan und John McGrath die „7/84“- Company. Der Name spielte auf die Besitzverhältnisse in Großbritannien an: 7 Prozent der Bevölkerung besaßen damals 84 Prozent des nationalen Reichtums. Nachdem sich 1973 eine eigenständige schottische „7/84“- Gruppe formiert hatte, zog das Wandertheater mit The Cheviot, the Stag and the Black Black Oil durch die nur selten von reisenden Schauspielern bedachten Dörfer der Highlands. The Cheviot erzählt die Geschichte Schottlands, die McGrath als Geschichte von „1.000 Jahren Invasion, Unterdrückung, Massaker, Plünderung, versuchter Ausrottung, Betrug und Verrat“ beschreibt. Die Revue, die heute als das Meisterwerk des schottischen Theaters gilt, reiht in einer Art Varieté-Show die Stationen der Unterdrückung aneinander — von der Vertreibung der Highland-Farmer durch die englische Aristokratie bis hin zur Ausbeutung der Ölreserven durch internationale Konzerne.
„Wir hoffen, daß unser Theater der schottischen Arbeiterklasse hilft, ihre eigene Zukunft zu gestalten — und daß wir den Leuten nebenbei noch gutes Theater, gute Musik, ein paar Witze und einen schönen Abend schenken.“ Das Programmheft macht klar, worum es geht: um populäres Theater, das unterhält und etwas über die Welt der Zuschauer sagt. Im Gegensatz zum Citizen-Triumvirat sucht John McGrath seine Stücke vor Ort in Schottland: „Um ein volkstümliches schottisches Publikum zu erreichen, mußten wir ihre Sprache sprechen und ihre Theatertradition, ihre Komödien, ihre Witze benutzen. Die populäre Kultur oder die Arbeiterkultur ist nicht universal wie die bourgeoise Kultur.“
1988 flog John McGrath nach internen Intrigen und einer Intervention des staatlichen Arts Council aus dem „7/84“-Direktorat. Mit seinen als Trilogie inszenierten Stücken Happy Land, Border Warfare und John Brown's Body setzt er nach dem Rausschmiß seinen Kurs der sozialistischen Heimatkunde fort. John Brown's Body läßt 200 Jahre Industrialisierung Revue passieren: Mit gewaltigen Stahlgerüsten baut McGrath auf der Bühne Bergwerke; von den Wänden hängen Zeichnungen („Hunger“, „Krankheit“, „Kriminalität“), Lieder wechseln mit dokumentarischen Texten.
Border Warfare macht das ganze Theater zur Bühne: Links liegt England, rechts Schottland und in der Mitte ducken sich die Zuschauer, um nicht von Holzpferden und Kriegern attackiert zu werden. Auch fast 300 Jahre nach dem Einigungsvertrag von 1707 setzen viele Schotten das Londoner Parlament mit einer Besatzungsmacht gleich — dieses Resentiment wollte McGrath auf die Bühne bringen: „Wenn man in England lebt, dann liegt England in der Mitte und Schottland irgendwo am Rand, und Wales an einem anderen Rand und Irland irgendwo da draußen, irgendwo im Weltall. Schottland ist eine Nation, aber nach und nach — und ganz besonders unter Thatcher — haben sich die Schotten als Provinz Englands gefühlt.“
Entertainment für die Arbeiterklasse
Sowohl für Border Warfare als auch für John Brown's Body engagierte McGrath die „Wildcat“-Company David MacLennans. MacLennan verließ „7/84“ schon 1978, um mit „Wildcat“ seine Vorstellung vom populären Theater umzusetzen: Mehr music hall, weniger Schauspiel. „Beware the poet“ schrieb sich MacLennan auf die Fahne — keine Poesie bitte, die Arbeiterklasse will entertainment.
Dem romantischen Ideal vom Genie, welches seine Visionen einem zumeist wohlhabenden und gebildeten Publikum offenbart, bringt David MacLennan keine großen Sympathien entgegen: „Ich glaube nicht, daß Kunst irgend etwas damit zu tun hat, daß die Musen auf das begabte Individuum hinabsteigen, das dann wie ein Zauberer einen Seidenschal aus dem Hut zieht. Warum sollten die Zuschauer den Eingeweiden des Künstlers eine solche Beachtung schenken?“
Thatcher (Dummies, 1979), der Bergarbeiterstreik (Dead Liberty, 1984) und der Polizeistaat (It's a free country, 1985) — der Alltag liefert Wildcat die Geschichten. Kredithaie und ihre Opfer spielen die Hauptrolle in der 91er Revue Sharks, die durch Schulaulen, Gemeindezentren und Jugendklubs zieht.
Marie will den Männern gefallen, kauft sich ein hübsches Kleid und muß sich deshalb Geld leihen. Die Banken geben armen Leuten kein Geld und erst recht nicht für ein Kleid, also geht Marie zu McNaughton, dem Kredithai. Der zockt sie ab, und erst als Marie sich traut, ihn zu verpfeifen, kommt das Happy-End: Die Polizei verhaftet McNaughton.
Die Teenager, die abends um 19 Uhr nichts zu tun haben, und die Hausfrauen, die gerade die letzten Teller weggespült haben, applaudieren begeistert, als in der Schulaula des Arbeiterbezirks Cathkin die Vorhänge fallen. Schon vorher, mitten im Stück, klatschten sie oder riefen „boo“, denn es ging um etwas Wichtiges: um wenig Geld. „Wenn in Arbeiterhaushalten der Kessel kaputt geht, dann ist das ein ernsthaftes Finanzproblem. Sie haben zwei Möglichkeiten: Entweder sie kochen Wasser in der Pfanne oder sie müssen sich Geld leihen.“ Neben der nicht neuen, aber schnell vergessenen Information, daß es tatsächlich arme Leute gibt, stehen im Programmheft für Sharks Tips, wie man in eine Kreditunion eintritt oder wie man eine gründet — Wildcat-Theater ist direkte Lebenshilfe.
Als ich das letzte Mal nach Glasgow reiste, sah ich noch immer viel Dreck und viel Grau. Ich sah aber auch ein Theater, das den Zuschauern gehört — weil es zu ihrer Stadt und zu ihrer Geschichte gehört. Ein solches Theater ist alltäglich und deshalb wichtig. Und es gibt den Glaswegians den Stolz, zu sagen: Glasgow ist die beste Stadt der Welt.
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