GASTKOMMENTAR: Problemstau
■ Die Bremer Grünen und ihr Nein ohne Ja
Der lange Nachmittag des 7.Dezember 1991 in der Aula der Bremer Lessingschule, am Rande des alternativen „Viertels“, wird in die Negativgeschichte der Grünen eingehen. Fast zehn Jahre lang haben viele Bremer Grüne auf eine Regierungsbeteiligung hingearbeitet, haben grüne Abgeordnete von den Oppositionsbänken aus alle Bremer Probleme durchgearbeitet und konstruktive Vorschläge gemacht. Die Wähler begleiteten die Partei auf diesem Wege mit wachsender Unterstützung. In den siebenwöchigen Koalitionsverhandlungen des Spätherbstes kamen die programmatischen Initiativen in fast allen Bereichen von den Grünen (zum Teil von der FDP, kaum von der SPD); durchgesetzt wurde ein Koalitionsprogramm, das mindestens so gut ist wie das für rot- grüne Koalitionen in anderen Bundesländern ausgehandelte — und dann führt eine Stimme zur Selbstblockade der Bremer Grünen, macht sie zum Bremsklotz für die Weiterentwicklung der Bundes- Grünen. Wo liegen die Gründe für diese Flucht ins machtpolitische Abseits?
Zunächst und vor allem war die Contra-Entscheidung eine nicht zufällige Folge ganz anders gemeinter und an sich vernünftiger Handlungen, ein paradoxer Effekt. Die Führungscrew hatte sich einigermaßen sicher gefühlt, hatte im Gespräch, im Interview, in den Zeitungen erklärt, mit einer Mehrheit auf der Mitgliederversammlung sei sicher zu rechnen. Ohne glaubwürdige Vorwarnung prekärer Machtverhältnisse fühlten sich auch all jene frei, ihre Kritik folgenlos auszudrücken, die diesen oder jenen Einzelpunkt monierten („die Interessen von Bremen-West sind zu kurz gekommen“ usw.) oder ihr diffuses Unbehagen gegenüber einer unbehaglichen Situation expressiv in einer Neinstimme symbolisierten.
Dabei gab es für die Einflußträger gute Gründe, mit einer Mehrheit zu rechnen. Es waren Mitgliederversammlungen, die die Weichen für die Koalitionsverhandlungen gestellt hatten und in denen es auch während des Verhandlungsmarathons positive Zwischenvoten gab. Zwar wurden die Wochen von innerparteilicher Opposition begleitet, aber ein Aufstand der Basis fand nicht statt. Es gab auch keine Vorwarnung von unten.
Alternativen waren zudem klar. Ein klassischer grüner Fundamentalismus existierte in Bremen nie, es ging nicht um das Prinzip der Mitregierung. Einige wollten in die Opposition, um „der Gesellschaft“, „den Bewegungen“ oder anderen Abstraktionen näher zu sein; nicht wenige meinten: „Rot-Grün statt Ampel“, hatten aber keinen Tip, wie man die Wedemeier-SPD dazu zwingen könnte; die meisten wollten sich, mit Sartre gesprochen, keine schmutzigen Hände machen. Nicht die Alternative siegte, sondern die vielen kleinen Unzufriedenheiten (mit Personen, Ressorts, Teilinteressen) und die Angst, aus der angehenden Wärme des Milieus in den schärfer gewordenen Wind gesellschaftlicher Konflikte aufzubrechen. Es war ein Nein ohne ein Ja zu einer alten oder gar zu einer neuen Perspektive. In der mehrstündigen Debatte der Versammlung fiel kein einziges Mal ein bundespolitisches Argument. Zum Beispiel, daß die Grünen, ähnlich wie die SPD, in den Ländern verschiedene koalitionspolitische Varianten durchprobieren müssen, um eines Tages auch in Bonn/ Berlin auf dem Hintergrund von Erfahrungen entscheiden zu können. Ralf Fücks, der Bundespolitiker, den viele für den Matador der Bremer Grünen gehalten hatten und der dieses bundespolitische Signal mit im Auge hatte, kam nicht zu Wort; die egalitären Regeln der Versammlungsdemokratie, sein Los-Pech und die Weigerung der Gegner, ihn statt eines Ausgelosten, der zurückziehen wollte, reden zu lassen, verhinderten, daß die Bremer Kirchturmspolitiker an diesem Nachmittag wenigstens einmal in einem größeren Zusammenhang denken mußten. Für einige Stunden lag Bremen nicht in der Bundesrepublik und tagte nicht als Dorf in der Stadt, sondern die Stadt im Dorf.
Zu viele Grüne sind auch heute noch in symbolische Politik verstrickt. Sie betreiben Identitätspolitik und besondere Pflege des Feindbildes. Dann verrutschen die Dinge, als hätten wir heute einen Bewegungszyklus, den die Grünen nur aufzunehmen hätten. Der produktivistische Strukturkonservatismus der Sozialdemokraten erscheint dann weniger schlimm als der Repräsentant jenseits der Klassengrenze, der diesmal die Grünen in Gestalt der FDP heimsuchte. Das Argument, ein Koalitionsvertrag mit der SPD allein wäre in allen relevanten Punkten nicht besser ausgefallen und daß die Bremer Grünen sich hinter den Abschlüssen der rot-grünen Koalitionen der anderen Bundesländer überhaupt nicht verstecken müssen, galt nicht.
Und schließlich die grünen Entscheidungsstrukturen: auf halbem Weg der Reform steckengeblieben; die Groß- und Mitgliederversammlung als Orte der Stimmungsdemokratie, wie es sonst keine gibt. Zufallszusammensetzung und die Zufallsstimme, deren Folgen die Bremer Grünen ein Jahrzehnt lang werden bearbeiten müssen — falls sie nicht doch noch die Kraft zur Korrektur finden. Weniger als die Hälfte der Mitglieder hat sich an der Abstimmung beteiligt. Die Alternativen sind Urabstimmungen wie bei Gewerkschaften vor dem Streik oder wirklich repräsentative Delegiertenversammlungen. Das andere wären reflexive Entscheidungsverfahren, bei denen zum Beispiel — nach einem Meinungsbild — die Beteiligten nicht nur ihre Präferenzen ausdrücken, sondern eine zweite und definitive Möglichkeit haben, zu entscheiden, ob sie auch bereit sind, die Folgen der Meinungsverteilung zu tragen.
Eine zweite Abstimmung hätte und würde in Bremen die Tür zu einem Experiment auf(ge)stoßen, das in der Bundesrepublik unternommen werden muß: um herauszufinden, wer mit wem und mit welcher Reichweite beginnen kann, den Problemstau abzuarbeiten. Joachim Raschke
Joachim Raschke ist Professor für Politische Wissenschaften an der Universität Hamburg.
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