„Bäume sind wichtiger als das Leben von Kindern“

Parlamentarischer Untersuchungsausschuß berichtet: In Brasilien werden täglich vier Straßenkinder ermordet  ■ Aus Rio Astrid Prange

Zum ersten Mal werden die Verbrecher beim Namen genannt. Am vergangenen Freitag fanden 70 mutmaßliche Kindermörder ihren Namen in der Tageszeitung 'Jornal do Brasil‘ wieder. Die Liste stammt vom Parlamentarischen Untersuchungsausschuß (CPI) zum Thema „Vernichtung von Kindern“, der nach sechs Monaten Arbeit in der Hauptstadt Brasilia seinen Abschlußbericht vorlegte.

Mehr als 7.000 Kinder wurden nach Angaben der Kommission in den letzten vier Jahren in Brasilien umgebracht. Über 80 Prozent der Opfer sind schwarz. Verantwortlich für die Verbrechen sind die Todesschwadrone, die sich hauptsächlich aus Polizisten und privaten Sicherheitskräften zusammensetzen. In Rio treiben rund 15 Killerbanden ihr Unwesen.

Ein Kapitel des 500 Seiten starken Berichts ist dem Kinder- und Babyhandel gewidmet. Brasiliens Außenminister Francisco Rezek schätzt, daß in den letzten fünf Jahren rund 10.000 brasilianische Kinder illegal adoptiert wurden. Italien steht mit rund 38 Prozent der illegalen Adoptionen an erster Stelle, gefolgt von Frankreich und den USA. Doch auch Deutschland, England, Kanada und die Niederlande gehören zu den „Importländern“ brasilianischer Kinder.

Einer der mutmaßlichen Geldgeber der Todesschwadrone ist der Vorsitzende der Vereinigung der Ladenbesitzer aus Rio de Janeiro, Sylvio Cunha. Der Geschäftsinhaber hatte im Januar dieses Jahres im Radio erklärt, daß „jeder Mord an einem Straßenkind eine Wohltat für die Gesellschaft ist“. Vor der Kommission leugnete Cunha zunächst seinen Ausspruch. Erst nachdem CPI-Mitglied Benedita da Silva, einzige schwarze Frau im brasilianischen Parlament, ihm seine Äußerung auf der Kassette vorspielte, rechtfertigte er seine Meinung mit dem Argument, daß „Straßenjungen keine Kinder sind, weil sie stehlen“. Cunha muß sich nun unter anderem wegen Meineids vor Gericht verantworten.

Nicht nur von Ladenbesitzern, Polizisten und privaten Sicherheitskräften, auch in Supermärkten wurden Minderjährige mißhandelt. Der CPI-Bericht erwähnt zum Beispiel eine Filiale der Kette „Paes Mendonca“ aus Rio, wo jugendliche Ladendiebe zur Strafe für einige Minuten in die Gefrierkammer eingesperrt werden. Die Firmen für private Sicherheitskräfte „Seguranca Jeans“, „Guarda Noturna“ und „SOS Services Gerais“, werden beschuldigt, die Todesschwadrone personell wie finanziell zu unterstützen. Auf den Zuckerrohrbaronen aus dem Nordosten lastet der Verdacht, zwölfjährige Kinder auf ihren Plantagen unter menschenunwürdigen Bedingungen arbeiten zu lassen.

Bis jetzt sind in Rio de Janeiro 14 von 70 mutmaßlichen Verbrechern, darunter auch Massenmörder Jodo Pedro Bueno, festgenommen worden. Bisher genoß der gefürchtete Killer als Angestellter des Familiengerichts in Duque de Caxias völlige Straffreiheit. Im nordöstlichen Bundesstaat Pernambuco sind 42 Militärpolizisten vom Dienst ausgeschlossen worden, die an der Jagd auf Straßenkinder beteiligt waren.

„Die Ausrottung von Straßenkindern ist sehr ernst. Ein Menschenleben ist hier nicht viel wert. Heute ist es wichtiger, einen Baum zu schützen, als ein Kind am Leben zu erhalten“, kritisiert Bundesanwalt Aristides Junqueira. Auf seine Anweisung hin werden nun die Landgerichte, die für die Aufklärung der Kindermorde zuständig sind, bei ihrer Arbeit von der Bundesstaatsanwaltschaft „begleitet“. Junqueira vermeidet das Wort „Druck“. „Es handelt sich lediglich um einen Ansporn für die Landgerichte, schneller zu arbeiten“, versichert er.

Die Mitglieder der Untersuchungskommission fordern, daß sich auch die Polizisten für ihre Taten vor dem Landgericht verantworten müssen, und nicht wie bisher von speziellen Militärgerichtshöfen verurteilt werden. Außerdem sollen unrechtmäßiger Waffenbesitz härter bestraft und private Sicherheitsfirmen stärker kontrolliert werden.

Gravierend ist laut CPI-Bericht auch der Mangel an Kinderkrippen. So verfügten zum Beispiel im Bundesstaat Sao Paulo nur 38 von insgesamt 62.000 Unternehmen mit mehr als 30 Angestellten über einen Hort, wie es gesetzlich vorgeschrieben ist. Die Folge: „Die Kinder landen auf der Straße, weil die Firmen die Gesetzgebung ignorieren“, kritisieren die Parlamentarier.