: Das Ende kam per Federstrich
■ Nur wenige Monate nach dem gescheiterten Putsch gegen den Präsidenten des krisengeschüttelten Sowjetreiches haben der russische Präsident Jelzin und seine Kollegen aus Belorußland und der Ukraine am...
Das Ende kam per Federstrich Nur wenige Monate nach dem gescheiterten Putsch gegen den Präsidenten des krisengeschüttelten Sowjetreiches haben der russische Präsident Jelzin und seine Kollegen aus Belorußland und der Ukraine am Sonntag mit ihrer Grundsatzerklärung nicht weniger als das Ende der Union Gorbatschows und damit auch aller ihrer Regierungsorgane verkündet.
Die Sowjetunion ist nicht mehr. So behaupten zumindest die Präsidenten Rußlands, der Ukraine und Belorußlands, Boris Jelzin, Leonid Krawtschuk und Stanislaw Schuschkewitsch am Ende ihrer gemeinsamen Erklärung vom Wochenende in dem kleinen Ort Viskulki bei Brest: „Wir, die Republiken Belorußland, Russische Föderation und Ukraine, konstatieren, daß die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken als Subjekt des internationalen Rechtes und als geopolitische Realität zu existieren aufhört.“ An ihre Stelle soll nun eine „Gemeinschaft der slawischen Staaten“ treten — ein Mittelding zwischen EWG und Commonwealth, dem beizutreten alle angrenzenden Länder aufgerufen sind.
Das neue Gemeinwesen repräsentiert 70 Prozent der Bevölkerung und den räumlich größten Teil der ehemaligen UdSSR. Den Weg nach Brest hat ohne Zweifel das ukrainische Votum für Souveränität vom letzten Wochenende geebnet, im Verbund mit der Weigerung der dortigen Regierung, einem neuen Unionsstaat beizutreten.
„Was wurde in Nowo-Ogarjowo geschaffen — eine „Union Souveräner Staaten“ oder eine „Wolke in Hosen?“, fragte noch vor zehn Tagen im Anklang an den Titel eines berühmten Gedichtes von Wladimir Majakowski die 'Komsomolskaja Prawda‘. Heute liegt die Antwort auf dem Tisch: Gorbatschows letzter Verfassungsentwurf für eine Staatenunion, die doch immer noch ein Unionsstaat sein sollte, war ein Versuch, den Kuchen gleichzeitig zu essen und zu behalten. Das Projekt hat sich ebenso wolkenhaft verflüchtigt wie seine Vorgänger. Ja, und auch der UdSSR-Präsident selbst, als Institution und Person, hängt nach der Proklamation von Brest gleichsam in der Luft. Scheinbar fest auf der Erde steht dagegen die „slawische Achse“, und erneuert ist der Beschluß der Perejaslawsker Rada von 1654, in dem die damalige ukrainische Führungsspitze geschworen hatte: „Auf ewig mit Rußland!“
Die Russen selbst zumindest finden dies in ihrer Mehrheit „ganz natürlich“. „Wie sollte es denn auch anders sein, so vieles vereint uns: Mit ein bißchen Mühe können wir unsere Sprachen gegenseitig auch ohne Lexikon verstehen. Und schließlich hatten wir doch alle christliche Großväter!“, freute sich am Montag morgen eine meiner Mitzeitungskäuferinnen. Am Kiosk hingen, wie zu erwarten, keine spannenden Kommentare — von allen Tageszeitungen erscheint montags nur die gute alte Tante 'Prawda‘, die die neueste Nachricht noch nicht verdaut hatte. „Das Treffen in Brest weckt die Hoffnung, daß ein zivilisierter Weg beschritten wird“, freute sich hingegen die 'Iswestija‘ bereits am Freitag. In der Rubrik „Standpunkt der Redaktion“ erörterte die Zeitung noch einmal die auch von Präsident Gorbatschow vor der ukrainischen Unabhängigkeit geäußerte Befürchtung: „Wird der Westen der UdSSR zur Arena von Spannungen und kriegerischen Auseinandersetzungen?“ Wohlwollend attestiert das Blatt Jelzin, Krawtschuk und Schuschkewitsch: „Die führenden Politiker haben nicht abgewartet, wie sich die Ereignisse entwickeln, sondern sie sind den Ereignissen vorausgeeilt und konnten so deren Lauf und Richtung lenken. Bezeichnend ist auch, daß sie sich von Angesicht zu Angesicht treffen und dabei keines Vermittlers bedürfen.“
Indem sie sich gegenseitig die bestehenden Grenzen garantieren und im Einklang mit allen bestehenden internationalen Abkommen die gemeinsame Verwaltung der in allen drei Staaten stationierten Atomwaffen beschlossen haben, dürften sich die drei Republiken erst einmal Spekulationen über mögliche Bürgerkriege untereinander zerstreut haben. In der Erklärung wird zudem die völlige atomare Abrüstung im weltweiten Rahmen als Ziel der Unterzeichner deklariert. Schon in bezug auf die friedliche Nutzung der Atomenergie sind zwei der drei Kernländer des künftigen Commonwealth gezeichnete Kinder: Belorußland leidet in noch stärkerem Maße an den Folgen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl — Minsk, die zukünftige gemeinsame Verwaltungshauptstadt in der Republik Weißrußland, strahlt. Großzügig hat sich Rußland in dem Abkommen vom Wochenende bereiterklärt, die Folgelasten des GAU zu teilen.
Einziger Unruheherd im ehemals sowjetischen Südwesten bleibt somit Moldawien, dessen Präsident Snjegur am Wochenende mit überragender Mehrheit wiedergewählt wurde. Er äußerte sich ebenso unbestimmt in bezug auf eine neue Union wie auch im Hinblick auf eine Vereinigung Moldawiens mit Rumänien, die dort national gesinnte Kreise anstreben.
Daß der ehemalige „ehrliche Makler“ Gorbatschow mit dem von ihm angestrebten Unionsstaat eine islamisch-zaristische Union auf die Füße stellen werde, nachdem die meisten ehemaligen Unionsrepubliken mit christlichen Traditionen schon nicht mehr teilnehmen wollten, diese Befürchtung war in der Vergangenheit vor allem im Westen des ehemaligen Imperiums laut geworden. Entsteht nun eine antiislamische slawische Allianz? „Jelzin, Krawtschuk und Schuschkewitsch haben konkretere und lebenswichtigere Sorgen, als ein geopolitisches oder sozial-religiöses Hickhack zu veranstalten“, schrieb die 'Iswestija‘ in ihrem Freitag-Kommentar. Tatsächlich stehen wirtschaftliche Erwägungen — die Schaffung einer Zolleinheit und Vermeidung sozialer Unruhen durch aufeinander abgestimmte Freigabe der Preise und Schutzmaßnahmen für die Bevölkerung — im Mittelpunkt des Abkommens.
Immerhin — das große Kasachstan, die vierte Atommacht in der ehemaligen UdSSR, wird nicht auf Anhieb von dem neuen Commonwealth zu begeistern sein. Ebenso könnten auch die islamischen Minderheiten innerhalb der Russischen Föderation, wie zum Beispiel Tatarstan, sich in dem neuen politischen Gebilde derart in die Enge getrieben sehen, daß sie ihren Segregationskurs beschleunigen. Präsident Nasarbajew äußerte am Sonntag, daß er auf die lange herausgearbeitete „Union Souveräner Staaten noch nicht so recht verzichten möchte“.
Am Montag mittag traf sich Naserbajew zu Konsultationen mit Jelzin und Gorbatschow. Nach Angaben der Nachrichtenagentur 'tass‘ kamen zu dem knapp einstündigen Treffen auch die Präsidenten Aserbaidschans und Tadschikistans, Ajas Mutalibow und Rahmon Nabijew, hinzu. Die zahlreichen auf die Ergebnisse dieses Treffens wartenden Journalisten schlossen nicht aus, daß „heute die Frage nach dem Rücktritt des Präsidenten der UdSSR gestellt wird“.
Das endgültige Ergebnis war bei Redaktionsschluß noch nicht bekannt. UdSSR-Präsident Gorbatschow hatte am Sonntag dem französischen Fernsehen erklärt: „Das Zentrum, das bin ich.“ Und dieses Zentrum, so Gorbatschow, bliebe bestehen. Falls dem so ist, führt der Weg zu neuen politischen Allianzen um das Zentrum herum. Barbara Kerneck, Moskau
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