piwik no script img

Wie aus vier Dörfern das Obervieland wurde

■ Ein neues Buch über die Identität eines Ortes vom Reißbrett

Obervieland? Wo liegt das denn? fragen auch gestandene BremerInnen irritiert. Und recht haben sie. Denn eigentlich gibt es Obervieland gar nicht, jedenfalls nicht im Bewußtsein seiner BewohnerInnen, die in Habenhausen, Arsten, Kattenturm oder Kattenesch leben. Am 1. Oktober 1962 wurde ihnen die Existenz als ein Stadtteil verordnet — und ein gemeinsames Ortsamt Obervieland eingerichtet. Nun gab, damit zusammenwächst, was zusammen verwaltet wird, das Ortsamt eine Ortschronik in Auftrag. Soeben ist sie unter dem Titel „Obervieland. Geschichte eines Stadtteils“ für 19,80 Mark in der Edition Temmen erschienen.

Seinen Namen verdankt das Vieland nicht etwa dem Weideland für Rind- oder ähnliches Vie“h“, sondern den Holländern, in deren Sprache „vie“ feuchtes, sumpfiges Land bezeichnet. 1598 wurde das Vieland am Südrand Bremens in Ober- und Niedervieland aufgeteilt. Soweit, immerhin, reichen doch die Wurzeln, weist Chronik-Autorin Gudrun Junghans dem nach Gewachsenem rufenden Reißbrettort nach.

Jahrhundertelang saßen dort Bauern auf ihren sauren Wiesen, bis die Bremer Stadtplaner Ende der 60er Jahre kühne Utopien entwickelten: Am 29. Juni 1960 hob die Stadtbürgerschaft den „Gesamtplan linkes Weserufer“ aus der Taufe. Der im Krieg zu 90 Prozent zerstörte Hafen sollte ausgebaut, das Niedervieland mit Gewerbe überzogen werden.

Zehntausende von Arbeitsplätzen und zehntausende von Wohnungen rechneten die Stadtplaner hoch. Kattenturm, Kattenesch, Habenhausen und Arsten sollten zum Obervieland zusammengeschlossen, die Freifläche zwischen den Dörfern mit futuristischen Hochhäusern bebaut werden. Auf 78.000 EinwohnerInnen sollte der neue Stadtteil anwachsen. Tat er aber nicht.

Auf 34.000 Seelen kann Ortsamtsleiter Siegmund Eibich heute blicken. Wohnraum wurde zwar massenhaft geschaffen, die notwendige Infrastruktur aber blieb auf der Strecke. Die ehemals modernen Hochhäuser finden ihre BewohnerInnen heute menschenunwürdig. Um so lieber blickt man auf Fotos von Habenhausenern im Ernteeinsatz, Arstener „Straatenmakers“ oder eine Hausschlachtung von 1930, die sich in der Chronik finden. Aber die gute alte Zeit, sie kommt nicht mehr, mahnt auch Gudrun Junghans in ihrem Ausblick.

Und so gut war sie auch nicht immer. Das zeigen die Kapitel über die Nazi-Zeit. Gudrun Junghans hat darauf geachtet, daß die Chronik zwischen 1933 und 1945 keine weißen Flecken enthält. Hier vor allem ist ihr ein Stück „historischer Tiefenschärfe“ (Verleger Horst Temmen) gelungen. Die von Junghans befragten ZeitzeugInnen räumen mit der weitverbreiteten Schutzbehauptung auf, niemand habe etwas gewußt und veranschaulichen, wie sich die meisten durch Wegsehen und Selbsttäuschung über die Runden gemogelt haben. asp

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen