: Als zwei Rixdörfer um ihre Schäflein rangen
■ Weil der Neuköllner Richardplatz vom Zentrum zur Peripherie mutierte, scheint dort die Zeit stehengeblieben zu sein/ Unweit der nach Karl Marx benannten Kaufrauschmeile fühlt man sich in eine westdeutsche Kleinstadt versetzt
Neukölln. Daß ein Ort, der jahrhundertelang als Zentrum gedient hat, eines Tages durch eine so triviale Begebenheit wie den Ausbau einer Straße von seiner Mittelpunktfunktion enthoben werden kann, ist wie ein Affront gegen unser dualistisches Denken. Der Bedeutungswandel des Richardplatzes in Neukölln ist eines der weniger bekannten Beispiele dafür: Die Einteilung in Zentrum und Peripherie, einem der vielen Gegensatzpaare, anhand derer wir unsere Welt sortieren, wird durch derartige Verlagerungen in Frage gestellt; Anwohner müssen umdenken und die Orte neu definieren. Berlin, eine Stadt, die, so Franz Hessel, im Jahr 1929, »immer unterwegs, immer in Begriff, anders zu werden ist«, kann auf eine Reihe solcher Prozesse zurückblicken (und wird bald weitere erleben).
Ursprünglich war der Richardplatz Dorfmittelpunkt einer Ortschaft namens Richardsdorp, Riechsdorf, oder später Rixdorf, die 1360 erstmalig schriftlich erwähnt wurde. In jenem Jahr wurde für das Dorf, in dem an die 100 Personen lebten, von den Rittern des Tempelordens, den damaligen Landesherren, eine Gründungsurkunde erstellt. Als weiteres wichtiges Ereignis folgte einige Jahrzehnte später — eine genaue Datierung ist nicht möglich — der Bau der Dorfkirche am Ostende des Richardplatzes, die dem Dorf ein gesellschaftliches Zentrum gab. Das Mauerwerk dieser mittelalterlichen Miniaturkirche hatte übrigens alle folgenden Kriege, Brände und sonstigen Katastrophen überstanden und wird noch heute für Gottesdienste genutzt.
Während der folgenden Jahrhunderte hat sich in dem mittelalterlichen Dörfchen offenbar wenig verändert. Im 17. Jahrhundert bereicherten die Einrichtung einer Kneipe und im 18. Jahrhundert der Bau einer Schule das Dorfleben. Die Einwohnerzahl veränderte sich in den ersten Jahrhunderten des Bestehens nur unwesentlich. Um 1737 gesellte sich dann zu den Richardsdorfern, deren Ort eine sackförmige Ansiedlung rund um den Richardplatz war, eine nennenswerte Zahl von Zuzöglingen. Achtzehn böhmische Protestanten und ihre Familien, die — wie viele andere tschechische Protestantenfamilien auch — dem Vorbild der Hugenotten gefolgt und von der Religionsverfolgung nach Brandenburg geflohen waren, wurden hier von der preußischen Verwaltung angesiedelt. Entlang einer Straßenzeile, der heutigen Richardstraße, entstand die neue Ortschaft Böhmisch-Rixdorf, die gegen Mitte des 18. Jahrhunderts auf 350 Einwohner angewachsen war. Zwischen den beiden Nachbardörfern entwickelte sich schnell ein reger Austausch, so daß bald auch Böhmen nach Deutsch-Rixdorf und Deutsche nach Böhmen-Rixdorf zogen. Noch heute sind auf den Namensschildern der Häuser rund um den Richardplatz eine auffällige Anzahl slawischer Namen zu finden. Selbst Wanzlick, der Name einer der Gründerfamilien von Böhmen-Rixdorf, taucht hier wieder auf. Die Vermischung der Bevölkerungsgruppen bereitete vor allem den Schulen und den Kirchengemeinden Probleme. Ein Konkurrenzkampf um Schüler und Schäflein begann, der durch diverse ebenso komplizierte wie nutzlose Anordnungen zu überwinden versucht wurde. 1873 schließlich zog man die Konsequenzen aus dem allgemeinen Durcheinander und legte die beiden Ortschaften zu einem Dorf, Rixdorf, zusammen.
Die neue Gemeindeverwaltung des Ortes bezog einige Mieträume am Richardplatz, die jedoch bald nicht mehr ausreichten. Als Standort für den Bau eines neuen Amtshauses wurde 1878 nicht etwa der alte Dorfplatz gewählt, sondern die Karl- Marx-Straße, die damals noch Berliner Straße beziehungsweise Bergstraße hieß. Diese nämlich war bereits drei Jahrzehnte zuvor zur Chaussee ausgebaut worden, um den Fuhr- und Postverkehr, der von Berlin über Rixdorf nach Königs-Wusterhausen und weiter nach Cottbus führte, zu erleichtern. Fast gleichzeitig mit der Ortsverwaltung verlegte auch die evangelisch-lutherische Kirchengemeinde ihren Schwerpunkt weg von der alten Dorfkirche am Richardplatz — hin zur neu erbauten Magdalenenkirche an der heutigen Karl-Marx-Straße. Die alte Kirche war zuvor an die kleine böhmisch-lutherische Gemeinde verkauft worden, in deren Händen sie noch heute ist. Die industrielle Revolution hatte auch Rixdorf erfaßt, Straßenzug um Straßenzug wurde gebaut, und die Einwohnerzahl verzehnfachte sich zwischen 1871 und 1899 schnell auf über 80.000.
Aus dem Dorf wurde eine Arbeiterwohnstadt, die mit niedrigen Mieten — und entsprechendem Wohnstandard — vor allem die ärmeren Leute anzog. Der einstige Dorfplatz geriet ins Abseits; die engen Straßen, durch die er mit der Verkehrsachse Karl-Marx-Straße verbunden war, entsprachen nicht mehr den neuen Anforderungen von Mobilität. Lediglich einige Wohnhäuser entstanden um die Jahrhundertwende noch am Platz; die Fabriken, Geschäfte und Kaufhäuser suchten sich leichter zugängliche Standorte. Noch heute wirkt der Richardplatz mit seiner mittelalterlichen Kirche und den erhalten gebliebenen einstöckigen Häusern, als sei hier die Zeit stehen geblieben. Wer von der im vorweihnachtlichen Kaufrauschansturm erstickenden Karl-Marx-Straße kommend, den Karl-Marx-Platz kreuzt und dann den Richardplatz betritt, glaubt, in einer anderen Welt gelandet zu sein. Besucher aus westdeutschen Kleinstädten fühlen sich hier bisweilen in ihre Heimat versetzt. Sonja Schock
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