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Der Mensch als Primzahl?

■ Unterwegs in einem Kunst-Labyrinth der Galerie »Weißer Elefant«

Unverständliche Ausstellungstitel sind wie Lotterielose. Sie verbergen ihren Inhalt und können sich als Treffer oder Nieten erweisen. Die Galerie Weißer Elefant hält derzeit unter dem Motto »Zustand beschleunigten Schweigens« einen Treffer parat. In den Räumen der noch vom Ostberliner Magistrat gegründeten, nun dem »Kunstamt Mitte« unterstehenden Einrichtung werden derzeit Arbeiten der Berliner Künstlerin Else »Twin« Gabriel präsentiert, die auf den ersten Blick so kryptisch erscheinen wie ihr Titel. Man sieht längliche schwarze Balken-Attrappen von Wasserwaagen, auf denen seltsame Namen stehen. Anstelle der Luftblase im Sucher zeigen sie anatomische Darstellungen; ferner hängen stilisierte Bullaugen an den Wänden und Leuchtkästen, die merkwürdige Zahlenreihen, Bilder von Tiefseefischen und einen Scherenschnitt des Profils der Mutter Goethes tragen.

Zwar sind die einzelnen Elemente entzifferbar, ihre Kombination aber wirkt absurd. Dabei bezeichnen die Einzelteile nur das, was jeder an ihnen erkennen kann: Attrappen von Wasserwaagen sollen Attrappen von Wasserwaagen sein, die darauf geschriebenen Namen gehören zu realen Personen, stilisierte Bullaugen sind stilisierte Bullaugen, und die in den Leuchtkästen erscheinenden Zahlenkolumnen folgen starren arithmetischen Systemen. Trotzdem bleiben die Arbeiten Gabriels ganz und gar rätselhaft.

Detektivischer Ehrgeiz wird geweckt. Das fängt bei den Namen an: Odulf Blunz, Thiudareiks Öderlin — wer heißt so? Die mathematischen Reihen lassen nur unteilbare, »individuelle« Primzahlen stehen und streichen alle anderen Ziffern aus... Wasserwaagen implizieren Gleichgewicht — seelisches Gleichgewicht? Bullaugen ein Schiff, die Sicht aufs Meer, mysteriöse und dem Menschen verborgene Lebensformen auf dessen Grund. Gabriel führt die Besucher durch ein Labyrinth von Informationen und Querverweisen, das Kunstwerk selbst muß im Kopf eines jeden Einzelnen entstehen. Die Künstlerin bietet nur Puzzlesteine, aus denen der Betrachter sein eigenes Bild formen muß. Das macht zwar viel Arbeit, aber Arbeit ist, so das Credo Gabriels, bewußtseinserweiternd.

Natürlich ist bei einer solchen Ausstellung der Katalog ein wesentlicher Bestandteil. In diesem Fall hilft ein schön formulierter Text des Schriftstellers Durs Grünbein dem Verständnis der Besucher auf die Sprünge: Gute Kunst bedurfte schon immer der Erklärung.

Mit der in Dresden zur Bühnenbildnerin ausgebildeten Gabriel stellt die Galerie Weißer Elefant ein weiteres Mal eine Künstlerin aus, deren Arbeiten Polarisierungen von Ost- und Westkunst als unzulässig einfache Denkkategorien entlarven. Die Wirksamkeit der Resultate zählt, nicht die Herkunft ihrer Autoren. Die DDR war schließlich nicht völlig abgeschnitten von internationalen Trends und Leitfiguren. Informationen flossen und boten den Köpfen die Basis für Zwischentöne im offiziösen Einheitsbrei. Kunst entsteht — wie alles andere — immer und überall. Ulrich Clewing

Galerie Weißer Elefant, Almstadtstr. 11, O-1154, Di.-Fr. 11-19, Sa. 15-18 Uhr, bis 21.12.

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