ERICH WÄHRT AM LÄNGSTEN Von Mathias Bröckers

Der Umgang mit den Verlierern sagt viel über den Charakter von Primaten- Gruppen — Verlierer nicht mehr auf der Stelle aufzufressen, markiert in der Evolution vielleicht so etwas wie den Beginn von Kultur. Kannibalismus jedenfalls gilt als niederste aller tierischen Eigenschaften, nur eine Spezies, die ihre eigene Art verschont, kann als „höhere Art“ durchgehen, wobei Ausnahmen, wie der Mensch, die Regel bestätigen. Neuerdings haben Naturforscher herausgefunden, daß es auch bei „niederen“ Tieren, wie etwa den Echsen, keineswegs so brutal kannibalistisch hergeht, wie bisher angenommen. Selbst das Krokodil hat Stil, was den Ex-Menschenfresser „Homo sapiens“ in ein nicht gerade vorteilhaftes Licht stellt. Vollends blaß aber wird die Krone der Schöpfung, wenn wir einen Blick unter Wasser tun und die „beautifull looser“-Kultur der Delphine betrachten: Hat sich ein Delphin eines schweren Verbrechens gegen die Delphinheit schuldig gemacht, findet eine Art Kreisverhör statt, bei dem der Angeklagte dem um ihn herumkreisenden Schwarm die Tat gesteht und selbst das Urteil vollstreckt: Er taucht nicht mehr auf zum Luftholen und beginnt zu sinken, so tief, daß er aus eigener Kraft nicht mehr nach oben kommt. In diesem Moment schwimmt der Schwarm darunter und transportiert ihn auf vielen langen Delphin-Nasen an die Oberfläche, zurück ins Leben. Leider gibt es, außer diesem häufig beobachteten Ritual, keine Zahlen über die Rückfallquoten der Delphin-Justiz — dennoch scheint vieles für äußerste Effizienz zu sprechen. Der Delinquent unterzieht sich offenbar einem Nahtodeserlebnis, jener merkwürdigen Erfahrung, von der immer mehr klinisch tote Menschen nach ihrer Wiederbelebung berichten. Logischerweise fallen diese Jenseits-Berichte sehr verschieden aus — schicken Sie fünf verschiedene Personen in ein unbekanntes Land, und Sie erhalten fünf verschiedene Berichte, der Eiffelturm aber zum Beispiel wird, sofern es sich um Frankreich handelt, niemandem entgangen sein, und so ist es auch bei den Kurzzeit-Toten: Nahezu alle behaupten, daß diese Erfahrung ihr Leben und ihre Weltsicht verändert hat. Und auf eben diesen Effekt scheint auch die Delphin-Strategie mit ihrer simulierten (Selbst-)Todesstrafe zu setzen — am Ende steht keine Leiche, sondern ein klügerer Delphin. Sehr weit entfernt von derlei Intelligenz ist die Jagd auf Erich Honecker, den man wie einen Operetten-Diktator von einer Botschafts-Insel zur anderen hupfen läßt, heimlich hoffend, daß der Streß ihm bald den Rest gibt. Die Vorstellung, daß Erich Mielke, das Haupt der Stasi-Krake, das sich gerade zu Tode hungern will, auf Staatskosten noch über Jahre an der Apparate-Medizin hängen könnte, entbehrt nicht der Groteske. Und was den anderen Erich angeht: Auch wer so steindumm ist wie Honecker, hat bessere Richter verdient als die, die ihm die Reptilienhirnis von 'Bild‘ suggerieren: „Komm raus, Feigling!“ Wer so ruft, von dem ist nichts Gutes zu erwarten — wen wundert's also, daß Erich keine Einsicht zeigt und flieht. Chronische Dumpfheit, Altersstarrsinn oder was immer seine Gründe sein mögen — auf der anderen Seite sieht es nicht viel besser aus: Nicht einmal ein kleines Häuschen am Tegernsee stellt man dem ehemaligen DDR-Leithammel für die Prozeßdauer (2, 5, 7 Jahre?) zur Verfügung. Im Umgang mit den Verlierern hängt die deutsche Kultur der Delphin-Intelligenz Lichtjahre hinterher.