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Schminke, Schweiß und Illusion

Über einige nützliche und unnütze neue Theaterbücher  ■ Von Sabine Seifert

Vor ein paar Jahren waren diese kleinen Harlekine, dem venezianischen Karneval abgeguckt, in Mode. In Mode ist vielleicht das falsche Wort, sie waren einfach da, präsentierten sich zuhauf und in verschiedenster Gestalt in Ramschläden, als Anstecknadel, Schlüsselanhänger oder auch als Emblem, das so Papierservietten oder ein Frühstücksservice zierte. Tinnef, Edelkitsch, die Träne des Clowns zum Modeschmuck gefaßt. Weltschmerz-Attitüde übersättigter Menschen, auf die vielleicht Peter Handkes Begriff vom „wunschlosen Unglück“ am ehesten zutrifft.

Jedenfalls sind es falsche Tränen, die da in Porzellan erstarrt sind. Sentimentaler Kitsch, der den Clown zum Narren hält und dem Theater Theater vorspielt. Aber ein bißchen Glitter sollte sein. Einblick in das „Leben hinter den Kulissen“ verspricht eine Anthologie, herausgegeben von Tobias Hofmann, die den Titel TagTraumTheater trägt. Ein Titel, der rührend-naiv sich im verbrauchten Sprachgestus der siebziger und achtziger Jahre geriert, als die Blochschen Hoffnungsträger jede Menge Tränen in Theaterworkshops ließen. „Ein Hauch von Schminke, Schweiß und Illusion“ (Tobias Hofmann über die „Theaterluft“) mag tatsächlich dabeigewesen sein.

„Atmosphäre Theater“, schreibt August Everding in seinem Vorwort, habe der Arbeitstitel, das Arbeitsvorhaben gelautet, die Atmosphäre eines Theaters in Wort und Bild einzufangen. Denn das dicke, schwere Buch liefert nur zur Häfte Text; Martin Graf hat im Theater fotografiert, Schauspieler porträtiert, Beleuchtungsproben beigewohnt, Requisite, Werkstätten und Flure aufgesucht. Er hat einige schöne Momente erwischt, zwischen und während der Proben, aber leider ist sein Blick in die Werkstätten, ins Innere und Alltagsleben des Theaters nicht dokumentarisch ausschweifend, sondern immer um einen besonderen bedeutungsschwangeren Ausschnitt bemüht. Oder suggerieren dies nur die überflüssigen und störenden Untertitel zu den Fotos, die beispielsweise den Blick auf verschiedene Wanduhren, die zum Fundus gehören, um Wortwitz bemüht, als „Zeit-Magazin“ deklarieren?

Die kurzen Texte sind nach Stichworten wie „Wege zur Bühne“, „Der Regisseur“, „Applaus“ und „Wenn die Vorhänge fallen“ in Kapiteln gesammelt: berühmte Schauspieler, Regisseure, Kritiker kommen eher anekdotisch als programmatisch zu Wort, und auch die Literaten werden angeführt (Goethe, C.F. Meyer und Kishon, keine modernen Dramatiker: immerhin also einmal ein Buch ohne Heiner Müller). Tobias Hofmann gibt jedem Kapitel eine kurze Einführung, allgemeinplätzlerisch und mit pädagogisch-besserwisserischem Einführungsfleiß: „Es gibt so viele Regisseur-Typen, wie es Regisseure gibt.“

Schon der Ton verrät, daß das Buch für den Theaterlaien gemacht ist. Doch sollte man ihn nicht für dumm verkaufen. Wäre nicht ein Insider-Buch viel spannender, ansteckender? Eines, das tatsächlich Positionen absteckt, Schauspielertheater von Wilsons Bildertheater zu unterscheiden hilft, das außer Reinhardt und Kortner auch noch einige jüngere Regisseure zu nennen und zitieren wagt? Aber nein, es geht ja um die Atmosphäre Theater, Theater als Raum, als Lebensraum, als Arbeitsstätte. Und warum finden sich dann keine Kapitel zu anderen Theaterberufen? Als bräuchte es keine Souffleuse, keine Gewandmeisterin und keinen Beleuchtungsmeister (um mal die geschlechtsspezifische Aufteilung im Theater zu unterstreichen)?

Der Staat in Unterhosen

Roberto Ciulli kommt daher, wo die Narrenkultur durch den Katholizismus konserviert und nicht, wie im protestantischen Norden, in Bann geschlagen wurde. Ciulli stammt aus einer wohlhabenden Mailänder Familie, studierte Philosophie und promovierte über Hegel. Er ahnte, wohin er fuhr, als er sich 1967 in den Zug nach Göttingen setzte, wo er zunächst bei Bosch und später als Beleuchter am Deutschen Theater arbeitete. Der Wechsel zum Regisseur gelang ihm leicht, Ciulli hatte bereits in Italien seine eigene Theatertruppe mit Namen „Il Globo“. Keine Gastarbeiterkarriere also, die er mit leichter Hand inszenierte; er ging als Regisseur zu Heyme nach Köln und dann ans Düsseldorfer Schauspielhaus, bis er die Nase vom deutschen Stadttheatersystem gestrichen voll hatte.

Zehn Jahre ist es jetzt her, daß Ciulli in Mülheim an der Ruhr gemeinsam mit dem Dramaturgen Helmut Schäfer sein Theaterexperiment begann. Das Theater im Raffelbergpark, ein ehemaliges Solbad, funktioniert nicht ohne, aber außerhalb der üblichen Subventionsstrukturen, nicht ohne, aber jenseits der üblichen Hierarchien. Ein Theaterkollektiv ohne den üblichen starren Arbeitsplan und ohne gewerkschaftliche Maßregelung. Ein Traum von Theater.

Das Experiment ist gelungen, soviel läßt sich derzeit bestimmt sagen. Das Mülheimer Theater ist kein Riesenapparat, sondern überschaubar und mit einem relativ kleinen Mitarbeiterstab; Ciulli ist sein Inspirator. Da lohnt es sich, den Theatervisionen des Roberto Ciulli, wie ein soeben zum Jubiläum erschienener Band heißt, nachzugehen. Nach Mülheim hat er sich geflüchtet vor so vielen falschen Harlekinen, der Clown, der Narr, den Frank-M. Raddatz in seinem hervorragenden Beitrag einfach an der Nase packt (da gibt es die rote Säufernase, die lange Nase, Gogols Nase) und damit der Theaterästhetik Ciullis auf die Spur kommt.

„Die Groteske ist die Kunstform der permanenten Revoluton“, schreibt Raddatz über Ciullis Regiekonzeption. Da steht der Staat plötzlich in Unterhosen da, nichts ist ihm heilig, auch das Ernsteste nicht, Religion und Tod. Ciulli rehabilitiert die Narrenkultur des Mittelalters, bei der Tod und Leben Hand in Hand gehen. Der Tod wird nicht verneint, sondern bejaht, denn das Kollektiv ist unsterblich. Der Mensch ist Teil der Natur, die sich erneuert: „Wo aber der individuelle Tod und die Todesangst nicht mehr das Maß aller Dinge sind, läßt sich keine Herrschaft errichten.“

Was aber, wenn dem Kollektiv, der ganzen Welt der Untergang droht? Ciulli wagt sich in die Bereiche des Nicht-Wissens vor. Seine Inszenierungen zeugen vom Bewußtsein der Katastrophe, für das der Tod die letzte Hoffnung wird — „eine Utopie angesichts der Berichte, nach denen über die meisten Planetoiden, die sinnlos durch das All schweifen, das Diktat der Unsterblichkeit verhängt ist“ (Frank-M. Raddatz).

Raddatz' Essay ist gut geschrieben und spinnt verschiedene Fäden, die immer wieder zusammenlaufen; sagen wir, er hat eine gute Nase. Zusammen mit den anderen Beiträgen von Harald Polenz, Helmut Schäfer (über die 1986 verstorbene Schauspielerin und Freundin Ciullis, Gordana Kasanović) und Heinz-Norbert Jocks ergibt dies ein äußerst lesenswertes Buch, das sehr viel neugieriger auf Theater macht als jede Anthologie. Im hinteren Teil befinden sich biographische Angaben und Inszenierungsdaten, mit Fotos und Zeichnungen.

Lebt doch! Lebt!

Eine Anekdote am Rande: Eine der ersten Regiearbeiten Ciullis in Mülheim war Leonce und Lena von Büchner. Tankred Dorst, der 1990 den Büchner-Preis erhielt, sann in seiner Preisrede über ein verlorengegangenes Manuskript des dramatischen Dichters nach: es galt Pietro Aretino, einem venezianischen Zeitgenossen der Renaissance, Pamphlet- und Komödienschreiber sowie Verfasser von Hurengesprächen und anderer pornographischer Dichtung.

Auch Dorst spielt die Themen Individuum-Kollektiv, Todesangst-Lebenslust durch. Aretino begegnet einem Propheten, der den Weltuntergang voraussagt. Aus Witz machte er sich daran, die Katastrophe unter den Menschen mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu propagieren. Die Menschen geraten in einen Rausch, so intensiv wie möglich zu leben. Nur der Melancholiker kann die Vorstellung nicht ertragen, daß ihm sein einziger Trost, sein baldiger individueller Tod, durch den allgemeinen Untergang genommen sei.

Als die Welt zur angesagten Stunde nicht vergeht, geraten die Menschen in Wut. Der Prophet wird erschlagen; Aretino, meint Dorst erfahren zu haben, sei vor Lachen vom Stuhl gefallen und daran erstickt. „... ist es denn so schlimm, liebe Zeitgenossen, daß ihr noch immer lebt?... Lebt doch! Lebt!“

Tankred Dorsts Rede zur Büchner-Preisverleihung 1990 mit dem Untertitel „... oder die Fragwürdigkeit der Kunst“ ist in einem kleinen Band der edition spangenberg abgedruckt, den der Verlag anläßlich einer Ausstellung zu Leben und Werk von Tankred Dorst herausgegeben hat. Biographische Notizen wechseln sich ab mit Stückerörterungen, Szenenfotos mit privaten Bildern, die seltsamerweise — schließlich ist es ein Band über Dorst — im Ich-Stil kommentiert sind (wahrscheinlich als Übernahme aus der Ausstellung): „Toller-Probe, 1968. Von Peter Palitzsch habe ich viel gelernt“. Oder: „Wir drei, nicht glücklich“.

Bittre Pillen

Berlin, Hauptstadt der DDR. 1952 finden in der Ostberliner Akademie der Künste die berühmten Mittwochsgespräche statt. Auf der Tagesordnung steht Hanns Eislers Libretto Johann Faustus, das er infolge der Debatte nicht fertigstellt. 1968 wird in Ost-Berlin eine szenische Lesung am Berliner Ensemble und in Rostock gar die Einstudierung des Textbuches verboten. Erst in den siebziger Jahren wird Johann Faustus in westdeutschen Theatern aufgeführt, Anfang der achtziger Jahre auch in Ost-Berlin. Jetzt konnte im Ostberliner Basisdruck-Verlag der gesamte Vorgang dokumentiert werden, Herausgeber ist der im Mai 1990 verstorbene Hans Bunge. Ein Stück unbewältigte DDR-Geschichte, wie die Verleger schreiben— und ein Stück ungeschriebene Musikgeschichte.

„Wie kam ich dazu, vierhundert Seiten vorgekauten Text in meine Schreibmaschine zu hämmern. War ich krank? Ja auch, denn schon beim Lesen wurde mir speiübel. Und ich war mir bewußt, daß ich diese Arbeit auf ungewisse Zeit nur für mein Schließfach machte: Aber bittre Pillen nimmt man nicht ein, um zu genießen, sondern um zu genesen.“

Hans Bunge, der seine Gespräche mit Hanns Eisler aus den Jahren 1958 bis 1962 unter dem Titel Fragen Sie mehr über Brecht veröffentlicht hat, führt verschiedene Gründe an. Seine persönliche Wut, seinen persönlichen zweifachen Karriereknick und: „um den Beweis führen zu können — darüber, daß dogmatische Eingriffe in Kunst, Wissenschaft und humanistische Lebensformen... unersetzbare Verluste verursacht... haben“. Zwischen 1953 und 1968 hatte sich die kulturpolitische Lage nicht etwa entkrampft, sondern verschlechtert. „1953 hat das Politbüro eine Diskussion noch für nötig gehalten, 1968 genügte bereits eine ,Weisung‘.“

Wie er an die Protokolle der sogenannten Mittwochsgespräche gekommen ist, an denen Eisler mit seinen Fürsprechern Brecht und dem später als Revisionisten verketzerten Ernst Fischer auf der einen Seite sowie dem Redaktionskollegium des 'Neuen Deutschland‘ und Alexander Abusch und einigen anderen auf der gegnerischen Seite teilgenommen haben, verrät Bunge nicht. Das Abtippen muß tatsächlich ein saures und hartes Stück Arbeit gewesen sein, der Weg zum Copyshop war damals noch nicht vorgesehen.

Die Dokumentation enthält nicht nur die Mittwochsgespräche aus dem Jahr 1953, die sehr wohl die „beispielhafte Manipulierung der Kunst zur Durchsetzung eines politischen Konzepts“ (Bunge) demonstrieren, sowie den umstrittenen Essay von Ernst Fischer aus dem Jahr 1952, sondern auch alle wesentlichen Zeitungsartikel und Thesenpapiere, die im Laufe der Jahre zu Johann Faustus geschrieben wurden.

Was war so aufregend an Eislers Faust-Fassung? Er packte den deutschen Intellektuellen am Schlafittchen, ein deutscher Bauernsohn in Zeiten der Reformation, des Bauernkriegs und im Pakt mit dem Teufel, sprich: auf der falschen Seite. Wie so oft machten es Eislers Fürsprecher nicht besser. Daß Faust eine Zentralfigur der deutschen Misere sei, hat Ernst Fischer zwar nie geschrieben, ihm galt der deutsche Humanist als Renegat. „Johann Faustus ist pessimistisch, volksfremd, ausweglos, antinational“, hieß es daraufhin im 'Neuen Deutschland‘: „Daher halten wir diesen Text für ungeeignet für eine neue deutsche Nationaloper.“

Ein anderer Bearbeiter des Faust- Stoffes, Thomas Mann, Verfasser des Faustus-Romans über den Tonsetzer Adrian Leverkühn, schrieb an Hanns Eisler: „Hübsch provokant ist ja das ganze und wird es noch mehr durch die Musik.“ Der entmutigte Eisler komponierte nur noch einige wenige Takte seiner Musik.

Tobias Hofmann, Martin Graf, Silvia Stammen: TagTraumTheater · Das Leben hinter den Kulissen in Bildern und Texten. 353 Seiten mit S/w-Abbildungen. Casimir Katz Verlag, Gernsbach 1991, 98DM

Heinz-Norbert Jocks, Harald Polenz, Frank-M. Raddatz, Helmut Schäfer: Die Theatervisionen des Roberto Ciulli · BruchStücke. 207 Seiten mit S/w-Abbildungen. felidae Verlagsgesellschaft, Essen 1991, 39,80 DM

Tankred Dorst · Bilder und Dokumente. 94 Seiten. edition spangenberg, München 1991. 29,80 DM

Hans Bunge: Die Debatte um Hanns Eislers „Johann Faustus“ · Eine Dokumentation. 393 Seiten. Basisdruck Verlag, Berlin 1991, 28,80 DM

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