Das Problem des moralischen Sprechens: Öder Binarismus

Es macht dumm und rechthaberisch, im Gegner rechts von einem immer den Nazi entlarven zu wollen und im Gegner links von einem immer den rot-grün versifften Gutmenschen.

Rassisten, Sexisten oder Arschlöcher müssen draußen bleiben – Aufschrift an einer Kneipe am Mariannenplatz, in der „toleranten Zone” Berlin-Kreuzberg Bild: Benjakon

von Ijoma Mangold

Kürzlich sagte ich zu einer Kollegin, deren Sprachbegabung ich bewundere, alles so gut ausdrücken zu können wie sie, sei schon auch ein Problem, denn das führe ja am Ende dazu, dass sie immer recht behalte. Aber sei, antwortete die Kollegin, recht behalten zu wollen nicht eine gute Motivation?

Yes, but no.

Im Zen-Buddhismus gibt es ein Koan, das lautet so: „Der Mensch geht über die Brücke. Unter der Brücke fließt der Fluss. / Der Mensch geht nicht über die Brücke. Unter der Brücke fließt kein Fluss.”

Die schnellste Abkürzung zur Gewissheit ist die Moral

Ich habe die Vermutung, dass es Sätze von solcher Ambivalenz und Paradoxie sind, die dem, was sich über die Welt sinnvoll sagen lässt, am nächsten kommen. Aber natürlich ist mir auch klar, dass man sich nicht komplett in vornehmer Erhabenheit nur auf den Zweifel, die Ambivalenz und die Ungewissheit berufen kann, sondern dass in dieser Welt tätiges Handeln notwendig ist, und dem tätigen Handeln müssen Sätze vorausgehen, die in ihrer impliziten Weltbeschreibung einen möglichst eindeutigen Aufforderungscharakter haben.

Ein Diskurs, der vor allem über Moral läuft, weiß im Vorhinein immer schon, wo er am Ende herauskommen will. Je weniger man einen Diskurs auf Moral festlegt, desto mehr Aspekte haben eine Chance aufgerufen zu werden, um einen Sachverhalt zu erhellen.

Die schnellste Abkürzung zur Gewissheit ist die Moral. Natürlich ist gegen die Moral im Allgemeinen nichts zu sagen, im Besonderen hingegen sehr viel. Abkürzungen zum Beispiel sparen Zeit, man sieht dann aber auch weniger. Das Zufällige, das Nichtgeplante und das Überraschende stellen sich viel häufiger bei Umwegen ein. Ein Diskurs, der vor allem über Moral läuft, weiß im Vorhinein immer schon, wo er am Ende herauskommen will. Je weniger man einen Diskurs auf Moral festlegt, desto mehr Aspekte haben eine Chance aufgerufen zu werden, um einen Sachverhalt zu erhellen.

Man kennt das aus unzähligen Gesprächssituationen: Ist man erst einmal im Moralmodus, wird der Gedankenaustausch starr und steif. Alle bewegen sich dann wie in erzene Ritterrüstungen gesteckt. Auf lächerliche Weise staksig und erhaben zugleich. Es wird dann allen so eng um die Brust, und am Ende werden Meinungen nur noch im Modus der Schnappatmung herausgeschleudert.

Die moralische Sprechweise neigt dazu, die gegnerische Position zur Charakterschwäche herabzuwürdigen

Die moralische Sprechweise handelt sich aber noch ein weiteres Problem ein. Sie arbeitet immer mit Motivunterstellungen. Sie neigt dazu, die gegnerische Position zur Charakterschwäche herabzuwürdigen. Dabei ist es total unwahrscheinlich, dass hinter jeder Meinung, die man selbst nicht teilt, ein charakterliches Defizit steckt. Unsere Meinungen und Standpunkte verdanken sich Prägungen, Erfahrungen und gewiss auch so etwas wie einem weltanschaulichen Temperament. Wenn man diese Erfahrungen und Temperamente gelten lässt, bekommt man mehr von der Welt mit, als wenn man sie moralisch diskriminiert.

Der Moralisierung des Diskurses ist ein Manichäismus eingebaut: Es gibt dann nur noch Gut und Böse. Es ist aber, das lehrt die geringste Menschenerfahrung, total unwahrscheinlich, dass die reale Unendlichkeit von verschiedenen Meinungen und Positionen sich auf den öden Binarismus von Gut und Böse reduzieren lässt. Im Gegner rechts von einem immer schon den Nazi, im Gegner links von einem immer den rot-grün versifften Gutmenschen entlarven zu wollen, macht dumm und rechthaberisch.

Weil ich es schon für statistisch unwahrscheinlich halte, dass ausgerechnet ich ein moralisch besserer Mensch sein sollte als mein Gegenredner, beiße ich mir lieber auf die Zunge, als mein Argument moralisch aufzuladen.

Was mich aber besonders misstrauisch gegen die moralische Grundierung der eigenen Rede macht, ist dies: Es ist fast unmöglich, mit Moral zu argumentieren, ohne sich selber in ein moralisch vorteilhaftes Licht zu rücken. Im Social Web gibt es für dieses Phänomen, das zwischen Facebook und Twitter zuletzt endemisch geworden ist, den Begriff: Virtue Signalling. Und weil ich es schon für statistisch unwahrscheinlich halte, dass ausgerechnet ich ein moralisch besserer Mensch sein sollte als mein Gegenredner, beiße ich mir lieber auf die Zunge, als mein Argument moralisch aufzuladen.

Mein Misstrauen gilt nicht dem moralischen Handeln, sehr wohl aber dem moralischen Reden

Zumal einen die Menschenkenntnis lehrt, dass jemand, nur weil er moralische Postulate im Mund führt, wenn es hart auf hart kommt, um keinen Cent moralischer ist als jener Zyniker, der um der coolen Pose willen alles dafür tut, damit seine Mitmenschen ihn für einen gewissenlosen Egoisten halten.

Kurz gesagt: Mein Misstrauen gilt nicht dem moralischen Handeln, sehr wohl aber dem moralischen Reden.

Aber landet man so nicht im völligen Relativismus, mag man mir entgegenhalten. Ja, diese Gefahr gibt es. Denn es gibt das Böse, das moralisch zu verurteilen ist. Es ist aber nach meiner Einschätzung der Extremzustand, von dem aus wir nicht die sittlich-diskursiven Regeln für den Normalzustand ableiten sollten. Für den Normalzustand reicht guter Sportsgeist, sodass man den Gegner wie einen Sparringpartner behandelt, durch den man besser wird. Denn inflationärer Gebrauch der Moral macht diese Waffe stumpf in jenem Ernstfall, wo es außer ihr keine Rettung gibt.

IJOMA MANGOLD ist Literaturkritiker und kulturpolitischer Korrespondent der ZEIT.

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