: Zweites Verfahren gegen Mauerschützen
Berlin (dpa) — Das zweite Verfahren wegen der Todesschüsse an der Berliner Mauer beginnt heute vor dem Berliner Landgericht. Die Tragik der Fälle gleicht sich. Wiederum sind Soldaten angeklagt, die in der Befehlshierarchie ganz unten standen und zur Tatzeit, im Dezember 1984, erst 20 und 23 Jahre alt waren. Ihnen gegenüber wird der Vater des getöteten Michael-Horst Schmidt sitzen, der nach eigenem Bekunden die Schüsse auf seinen Sohn immer noch nicht verkraftet hat. Ihm bleibt nur der Trost, daß „der Opfertod“ der Flüchtlinge „auch dazu beigetragen hat, daß die Schandmauer eines Tages fallen konnte“. Der erste Mauerschützenprozeß ist anhaltender öffentlicher Kritik ausgesetzt, da die eigentlich Verantwortlichen noch immer nicht vor Gericht stehen. Doch das Verfahren gegen vier ehemalige Grenzsoldaten hat gleichwohl einige Fragen geklärt: So scheint festzustehen, daß in aller Regel die Soldaten nicht zum Grenzdienst gezwungen wurden. Sie ahnten zumindest wohl auch, daß die Schüsse trotz der entsprechenden DDR-Gesetze Unrecht waren. Die Grenzer wollten nach eigenen Aussagen „mit weißen Handschuhen nach Hause“. Sie hatten gehofft, daß kein Flüchtling in ihren Grenzabschnitt gelangt, auf den sie schießen mußten. Ob ihnen vorgeworfen werden kann, sie hätten die Menschenrechtswidrigkeit der Todesschüsse erkannt, ist aber trotzdem fraglich. Ein Ende des ersten Prozesses ist nicht abzusehen. Der zweite Prozeß betritt daher ebenfalls „juristisches Niemandsland“. Die Umstände des Todes von Michael-Horst Schmidt machen noch heute betroffen. Der damals 20jährige ist offenbar erst am letzten Hindernis vor West-Berlin von einer der 30 Kugeln getroffen worden, die die beiden Angeklagten auf ihn abgefeuert hatten. Er hatte schon auf einer Leiter stehend den oberen Mauerrand umklammert. Er lebte noch drei Stunden, ehe er im Krankenhaus der Deutschen Volkspolizei starb.
Den Entschluß zu seiner Flucht muß Schmidt nach Darstellung seines Vaters spontan gefaßt haben. Ein Mädchen habe ihm später erzählt, so der Vater, daß sein Sohn in einer Disko mit anderen erregt über die Situation in der DDR gesprochen habe.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen