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Der Fall Honecker: Recht oder Brot und Spiele für das Volk

Recht oder Brot und Spiele

für das Volk?

Die Straftat, aufgrund der dem ehemaligen Staatsoberhaupt der DDR, Erich Honecker, ein Haftbefehl vom Berliner Senat ausgestellt wurde, bezieht sich auf Handlungen, die während der Existenz der DDR begangen wurden, die konform mit den dann gültigen und in Kraft befindlichen Gesetzen dieses Staates waren. Die DDR war in der ganzen Welt als souveräner Staat anerkannt. Sie war Mitglied der Vereinten Nationen und unterhielt diplomatische Beziehungen mit anderen freien und souveränen Staaten, die die DDR nicht diskriminierten, trotz ihrer politisch und gesellschaftlich ungerechten Regierung, die ihren BürgerInnen persönliche Freiheiten und Rechte vorenthielt. Ihre Gesetzgebung erfuhr weder die offizielle Kritik der Bundesrepublik Deutschland noch die seitens der Vereinten Nationen. Über die Existenz der Mauer gab es eine Komplizenschaft des Schweigens seitens des Westens, einschließlich der Bundesrepublik Deutschland, die in den letzten Jahren den Status quo zu akzeptieren schien. Die Stimme des Präsidenten Reagan erhob sich als einzige und alleine gegen die Berliner Mauer auf einem seiner letzten offiziellen Besuche. Monate vor dem Fall der Mauer wurde Honecker vom Bundeskanzler Helmut Kohl in einem Palast in Bonn auf einem offiziellen Bankett mit Staatsehren und rotem Teppich empfangen. Die Straftaten, die Gegenstand eines Gerichtsverfahrens sein sollen, sind aufgrund eines erlassenen Schießbefehls begangen worden, der mit der Gesetzgebung und Verfassung der DDR konform war und zum Ziel hatte, im Sinne der Regierung und der Legislative des kommunistischen Systems die Flucht von Bürgern in den Westen zu verhindern, nicht, um zu töten, selbst wenn dieses Risiko, den Tod zu verursachen, in Kauf genommen wurde, genauso wie es im Fall eines Gefängnisses geschieht, wo der Wächter gemäß der Anordnungen die Befugnisse hat zu schießen, um die Flucht von Gefangenen zu verhindern. Diese Situation war der Öffentlichkeit und den politischen Organen der Bundesrepublik gut bekannt; die Presse informierte über diese fatalen Vorfälle, die sich an der tragischen Grenze ereigneten. Allerdings gab es keine massiven Reaktionen, weder größere Proteste noch energische Anklagen, wie es die Unmenschlichkeit dieser tragischen Situation erforderte. Damals war die DDR mit ihrem gesamten Unrechtsregime als souveräner Staat in der Welt anerkannt.

Das Recht bezeichnet eine Handlung als Straftat, wenn sie ein juristisches, durch das Gesetz geschütztes Gut verletzt, in diesem Fall das Recht auf Leben. [...] Es ist unzulässig, daß die Verfolgung des Straftäters —kein Individuum in diesem Fall, sondern eine Clique der politischen Macht, ein System — von der Gelegenheit der politischen Umstände abhängt. Es gehört nicht zum Bereich des Rechts, den Straftäter nur dann zu verfolgen, wenn es eine populistische Politik so fordert, und den Straftäter zu ignorieren, wenn es eine Politik und Zweckmäßigkeit so nahelegt. In diesem Fall sind wir nicht Zeuge der Justiz, sondern des alten Glaubens: »Dem Volk Brot und Spiele«.

Die DDR existiert nicht mehr. Mit ihr ist auch glücklicherweise die unmenschliche, brutale Gesetzgebung verschwunden, die eine Teilung deckte, die niemals in der Geschichte hätte existieren dürfen. Aufgrund welchen Gesetzes und vor welchem Gericht erwägt man heute, den Ex- Staatschef einer Republik zu richten, die anerkannt und akzeptiert von demselben Land war, das ihn heute richten möchte und gestern nicht einmal offiziell die Mauer und die an ihr begangenen Straftaten vor den Vereinten Nationen verurteilte, wie es mit vielen anderen Menschenrechtsverletzungen geschah, zum Beispiel von Südafrika, das internationale Verurteilung mit der Unterstützung von Bonn erfuhr. Welches ist das zuständige Gericht, um diesen einen deutschen Ex-Staatschef zu richten, und aufgrund welcher Strafgesetzgebung? Das westliche Strafrecht wäre nicht geeignet, um Ungerechtigkeiten zu ahnden, die von der SED, mit der Deckung einer gültigen Gesetzgebung innerhalb eines damalig bestehenden Staates mit genauso international anerkannter Souveränität wie die der Sowjetunion und aller Ostblockländer begangen wurden. Die Grenzen des Rechts selbst, das heißt, was rechtlich nicht möglich ist, darf man nicht an ihm vorbei versuchen, selbst wenn die Gesellschaft eine Ungerechtigkeit erdulden muß. Die meisten Ungerechtigkeiten erfahren eine moralische Verurteilung, keine juristische. Die Nürnberger Prozesse sollten die Begierde, den Ruf nach Justiz befriedigen, der sich nach der Bekanntmachung der Kriegsverbrechen erhob, aber dieser besagte Prozeß war die Negation aller Rechtsprinzipien, ein Beispiel des Anti-Rechtswesens.

Chile, ein Land am anderen Ende der Welt, das eine alte Tradition parlamentarischer Demokratie kannte, während in Deutschland die Herrschaft zwischen dem Despotismus der Fürsten und dem Absolutismus der Hohenzollern schwankte, ein Land, das eine grausame Diktatur durch institutionelle Wege zu überwinden wußte und dessen demokratische Regierung heute bestrebt ist, die Integration, die nationale Einheit als Grundlage für ein zivilisiertes Zusammenleben zu suchen, um sich den nationalen Problemen zu stellen, ist ein gutes Beispiel für Deutschland. Genauso hat es Deutschland nötig, in die Zukunft zu sehen, ohne sich in einen Hexenkessel zu verwandeln. Die Regierung von Bonn sollte eine Kommission aus Juristen bilden, die die Vergangenheit untersucht, um die historische Wahrheit zu ergründen, die begangenen Ungerechtigkeiten wiedergutzumachen und die Verantwortlichkeiten aufzuzeigen. Das war der Zweck des Rettig-Berichtes über die Zeit der Diktatur Pinochets, der vom Präsidenten Patricie Aylwin selbst angefordert wurde.

Erich Honecker hat bereits die Russische Föderation verlassen. Er befindet sich seit Donnerstag, dem 12.12., in der chilenischen Botschaft in Moskau, das heißt auf chilenischem Territorium, denn dem internationalen Brauch gemäß besitzen die Botschaften extraterritorialen Status. Die katholische Kirche von Chile hat sich bereits zugunsten der Einreise Honeckers aus humanitären Gründen ausgesprochen. Bonn ist aufgerufen, auf diese konziliante Lösung zu antworten, die nach dem Kriterium von Santiago geboten ist, um seine Energien darauf zu bündeln, die Vereinigung Deutschlands nicht nur als politische, soziale und wirtschaftliche Einheit, sondern als Rechtsstaat zu konsolidieren, was bedeutet, Deutschland mit einer politischen Verfassung auszustatten und mit einer Gesetzgebung, die einheitlich und kongruent auf nationaler und regionaler Ebene ist. Währenddessen muß der Fall des ehemaligen Staatsoberhauptes der alten Deutschen Demokratischen Republik unter humanitären Aspekten behandelt werden, denn es gibt keine andere plausible Lösung. Luz Maria Destéfano de Lenkait, chilenische Rechtsanwältin, Ex-Diplomatin und Publizistin, Meerbusch, 14.12.91

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