: Anmerkungen zu meiner Stasi-Akte
■ Von Jörg Bernhard Bilke
Im Sommer 1961, als ich im siebten Semester Literaturwissenschaft an der Universität Mainz studierte, wurde ich Mitarbeiter der Studentenzeitschrift nobis, in der ich sieben DDR-kritische Artikel veröffentlichte. Nach einem Besuch bei dem 1957 geflohenen Schriftsteller Gerhard Zwerenz, dessen Leipziger Freund Erich Loest damals schon seit vier Jahren im Zuchthaus Bautzen einsaß, am 1. Juli in Köln und nach einem Treffen mit dem Leipziger Literaturprofessor Hans Mayer am 8. Juli in Frankfurt am Main, schlug ich, trotz des Mauerbaus in Berlin vom 13. August, alle Warnungen in den Wind und fuhr am 6. September 1961 nach Leipzig, um Nachforschungen über den verschollenen Erich Loest anzustellen, dessen Frau ich schon im Herbt 1959 in der Leipziger Oststraße besucht hatte. Drei Tage später, am 9. September, einem warmen Spätsommermorgen, wurde ich auf dem Karl-Marx- Platz, der heute wieder Augustusplatz heißt, von der Staatssicherheit verhaftet und am 23. Januar 1962 vom Bezirksgericht Leipzig nach den Paragraphen 15, 19, 21 des Strafrechtsergänzungsgesetzes vom 11. Dezember 1957 zu dreieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt.
Über meine Haftjahre in Torgau an der Elbe und in Waldheim in Sachsen bis zum Freikauf am 25. August 1964 habe ich in der Artikelserie Troglodytische Jahre 1965/66 berichtet. In den Jahren 1990/91 bin ich auch dreimal in Waldheim gewesen und durfte innerhalb der heutigen Justizvollzugsanstalt des Landes Sachsen fotografieren. Am 19. März 1991 wurden mir vom Rehabilitierungssenat des Bezirksgerichts Leipzig Anklageschrift, Eröffnungsbeschluß und Urteilsbegründung von 1961/62 zugeschickt, die auf mich heute wie Botschaften aus einer längst untergegangenen Welt wirken. Wie damals und insgesamt vier Jahrzehnte „sozialistisches Recht“ gesprochen wurde, kann der Leser, der sich in die hier abgedruckten Gerichtsakten vertieft, selbst beurteilen. [...]
Aus heutiger Sicht wirkt das Vokabular dieser Akten wie die Geheimsprache einer Räuberbande oder einer Sekte, die einer Wirklichkeit verschworen war, die es nirgendwo gab. Es war das alte Märchen von Des Kaisers neuen Kleidern , an das zu glauben dem DDR-Bewohner vier Jahrzehnte Verpflichtung war. Es könnte lächerlich und abgeschmackt wirken, wenn nicht im Namen dieser Klassenkampfphrasen Tausende von harmlosen Leuten auf barbarische Weise bestraft wurden, nur weil sie anders leben wollten als ihnen vorgeschrieben war.JBB
Aus dem Urteil des Bezirksgerichts
Leipzig vom 9.12. 1961,
zitieren wir die
Gründe:
Der 24jährige Angeklagte ist westdeutscher Bürger. Sein Vater ist von Beruf Chemiker, war früher selbständig und ist jetzt Abteilungsleiter bei der westdeutschen Firma „Heraeus“ in Hanau.
Nach seinem Schulbesuch, Volksschule, Humanistisches Gymnasium, Oberschule Kirchheim- Teck, mit bestandenem Abitur, immatrikulierte er bei der sogenannten „Freien Universität“ in Westberlin, Philosophische Fakultät. [...]
Das Ziel des Angeklagten war, Germanistik zu studieren. Er hatte aber auch zwei Altsprachen, Lateinisch und Griechisch, belegt. Entgegen der Aufgabe einer wissenschaftlichen Ausbildung hatte er selbst zu den ihn umgebenden Dingen nicht die Einstellung gewonnen, wissenschaftlich vorzugehen, um sich solide wissenschaftliche Kenntnisse für die Beurteilung der ihn umgebenden Verhältnisse anzueignen.
In Westberlin kam er auch mit Renegaten des Marxismus-Leninismus und Verrätern der Deutschen Demokratischen Republik zusammen. Er hatte sich zu diesem Zeitpunkt auch vorgenommen, den Marxismus-Leninismus zu studieren, und belegte auch ein entsprechendes Fach. Die dazu notwendige Literatur besorgte er sich aus dem demokratischen Sektor von Großberlin. Dazu gehörten u.a. auch die „Ausgewählten Werke“ von Lenin (2 Bände) und 2 Bände von Karl Marx. Nach Abschluß von 6 Semestern in Westberlin nahm er das weitere Studium an der Universität in Mainz auf. Er ließ sich die von ihm erworbenen Bände nachschicken, mußte jedoch feststellen, daß diese Bücher vom Verfassungsschutz beschlagnahmt wurden.
Während seiner Studienzeit in Westberlin nahm er auch an einer sogenannten „Feier zum 17.6.1953“ teil, zu der er wegen seiner Aktivität in der schlagenden Verbindung eingeladen worden war. Zur gleichen Zeit hatte er auch Verbindung zu Mitgliedern der FDJ der Humboldt- Universität, die er in Westberlin kennengelernt hatte. Auf Veranlassung eines Stuttgarter Professors lud er einige Angehörige der Humboldt-Universität zu einer Aussprache nach Westberlin in seinem Zimmer ein, an der noch andere westdeutsche bzw. westberliner Studenten und der Stuttgarter Professor teilnahmen. Gegenstand dieser Aussprache sollte eine Auseinandersetzung über die Frage Westberlins ein. Ziel dieser Aussprache war es jedoch, die Bürger der DDR und Studenten der Humboldt-Universität von den Auffassungen der westdeutschen Regierung zur Westberlin-Lage zu überzeugen. Der Angeklagte hat zu diesem Zwecke sein Zimmer zur Verfügung gestellt und auch die Einladung der FDJ-ler übernommen. Eine erfolgreiche Beeinflussung der Studenten der Humboldt-Universität ist den westberliner Studenten und dem Stuttgarter Professor nicht gelungen.
Neben dieser friedensgefährdenden Tätigkeit des Angeklagten gibt es auch Momente, die deutlich darauf hinweisen, daß er zum damaligen Zeitpunkt ein Suchender war. So besuchte er auch die in Westdeutschland gezeigte Ausstellung von Reinhard Strecker über die in Westdeutschland tätigen Blutrichter. Der Angeklagte hat aber weder aus dieser Ausstellung noch aus der ihm erteilten schweren Dimission noch aus der Diskussion mit den Angehörigen der FDJ die richtigen Schlußfolgerungen gezogen, sondern entwickelte sich immer mehr zu einem Verfechter der neofaschistisch-klerikalen Ideologie der westdeutschen Regierung.
In Mainz lernte der Angeklagte die monatlich erscheinende Studentenzeitung „nobis“ kennen. Er hatte zu diesem Zeitpunkt bereits Verschiedenes von dem Verräter der Deutschen Demokratischen Republik Zwerenz gelesen und dessen offene feindliche Einstellung gegen die Deutsche Demokratische Republik erkannt. Aus den Veröffentlichungen von Zwerenz wurde ihm auch bekannt, daß der Schriftsteller Loest in der Deutschen Demokratischen Republik inhaftiert wurde. Seine erste Verbindungsaufnahme erfolgte in den Jahren 1958/59, nach Kenntnisnahme eines Artikels aus einer Stuttgarter Zeitung. Er hatte damals Zwerenz geschrieben und sich insbesondere nach einer Erzählung erkundigt. Er will daraufhin die Antwort erhalten haben, daß diese Erzählung in Loests „Liebesgeschichten“ enthalten sei. [...]
Seine Verbindung mit dem Verräter Zwerenz nutzte der Angeklagte u.a. dazu aus, um einmal diesen zur Mitarbeit an der Studentenzeitung „nobis“ zu gewinnen, zum anderen aber auch dazu, um durch Zwerenz bei westdeutschen Zeitungen Einfluß zu gewinnen. Nach einem Briefwechsel im Mai/Juni 1961 kam der Angeklagte im Juli 1961 mit Zwerenz in persönliche Berührung. Zu diesem Zeitpunkt, am 8.7.1961, erhielt der Angeklagte von Zwerenz den Auftrag, bei seinem Besuch in der DDR anläßlich der bevorstehenden Herbstmesse die Wohnanschrift des Vaters des Schriftstellers Loest in Mittweida festzustellen und Grüße an Frau Loest in Leipzig O5 zu übermitteln. Er sollte ferner ausrichten, daß nach der Haftentlassung des Loest dieser mit seiner Ehefrau nach Westdeutschland kommen könne und dort für sie gesorgt werde. Da sich der Angeklagte mit Zwerenz über seine schriftstellerischen Arbeiten unterhalten hatte und Bilke daran interessiert war, auch für bestimmte Zeitungen zu schreiben, gab ihm Zwerenz den Hinweis, innerhalb der DDR danach zu forschen, ob Bücher von Loest noch verkauft werden und welche Gründe für seine Inhaftierung bekannt sind. Er wollte daraus einen Artikel fertigen mit der Überschrift „Auf den Spuren eines verschollenen Schriftstellers“. Dieser Artikel sollte in der Zeitung „Die Welt“ oder „Die Zeit“ zur Veröffentlichung gelangen, um auf die Dienststellen der DDR einen Druck auszuüben, um dadurch die Entlassung von Loest zu erreichen.
Für die Herbstmesse 1961 besorgte sich der Angeklagte einen Messeausweis und kam damit am 6.9.1961 mit seinem Krad in die DDR. Er besuchte u.a. die Deutsche Bücherei, und zwar am 7. und am 8.9.9161 und fragte in der Franz- Mehring-Buchhandlung nach Büchern von Loest. Nachdem ihm dort mitgeteilt worden war, daß Loest verurteilt worden sei, stellte er keine weiteren Fragen. Gleichzeitig versuchte er durch Einsicht in ein Telefonbuch von Mittweida die Anschrift des Vaters des Schriftstellers Loest zu erfahren. Obwohl er schon im Jahre 1959 die Ehefrau des verurteilten Loest in der Wohnung aufgesucht hatte, mit dieser über deren Mann sprach und sich auch Bücher von Loest ausgeliehen hatte, versuchte er nunmehr auftragsgemäß erneut mit Frau Loest in Verbindung zu treten. In der Wohnung traf er diese jedoch nicht an, da Frau Loest einer geregelten Arbeit nachgeht. Auf dem Wege von Westdeutschland nach Leipzig machte sich der Angeklagte einige Notizen für einen Artikel, den er später in einer westdeutschen Zeitung oder im „SBZ-Archiv“ veröffentlichen wollte. Der Artikel sollte die Überschrift haben „Stürmischer Herbst in Leipzig“. Die Stichworte, die er auf der Rückseite einer Rechnung anbrachte, sollten ihm als Erinnerungsstützen für diesen Artikel mit hetzerischem Inhalt dienen.
Der Angeklagte hat dagegen eingewandt. Die von ihm in Abdruck gebrachten Artikel seien in einer westdeutschen Zeitung erschienen, und er habe nur das Gleichgewicht herstellen wollen. Er habe keinesfalls ausschließlich gegen die DDR gehetzt, sondern auch positive Artikel im Sinne der DDR geschrieben. [...]
Den Ausführungen des Angeklagten kann nicht gefolgt werden.
Unabhängig davon, daß die Artikel ausschließlich in einer westdeutschen Zeitung erschienen sind, ist festzustellen, daß sich der Inhalt dieser Artikel eindeutig gegen die DDR und die Organe der DDR richten. Dem Angeklagten ist aber auch bekannt, daß diese Zeitungen einer Vielzahl von Personen innerhalb der DDR übersandt werden, und er selbst hat diese Zeitschrift auch einem Studenten der Humboldt-Universität zugeschickt. Es kann dahingestellt bleiben, ob der Angeklagte auch in einem Einzelfall mal etwas Gutes über die DDR sagte. In seiner Anmerkung „Sogenannt“ hat er deutlich genug zum Ausdruck gebracht, daß er für seinen Teil die DDR nicht anerkennt. Was nach seiner Auffassung nicht da ist oder nicht da sein darf, wird allgemein nicht gelobt. Im übrigen wird er aber nur wegen der gegen die DDR gerichteten Hetze zur Verantwortung gezogen, womit keinesfalls gesagt wird, daß er in seinem persönlichen Leben nicht auch einige guten Seiten hat. [...]
Der Staatswanwalt hat für die vom Angeklagten begangene Hetze 2 Jahre und 6 Monate Zuchthaus beantragt. Der Senat folgt diesem Antrag und erkennt diesen als richtig an, obwohl die Schwere der Verbrechen allgemein eine höhere Strafe erfordern würde. Der Senat läßt sich aber davon leiten, wie es auch aus den Ausführungen des Staatsanwaltes deutlich wurde, daß es sich bei dem Angeklagten um einen jungen Menschen handelt, der in Westdeutschland erzogen wurde, also auch in dem gesamten verlogenen Sinne der bürgerlichen Klassengesellschaft im Haß gegen die Arbeiterklasse und gegen den sozialistischen Staat. Er läßt sich ferner davon leiten, daß der Angeklagte noch ein unfertiger Mensch ist, der zwar selbständig handelte, aber nur ein Rädchen im gesamten Getriebe der westdeutschen Monopole und Militaristen ist.
Auch die vom Staatsanwalt beantragte Strafe von 1 Jahr und 6 Monaten Zuchthaus für die tateinheitlich begangene Handlung der Sammlung von Nachrichten und der Verleitung zweier Bürger der DDR zum Verlassen der Republik erkennt der Senat als zutreffend an. Er hat auch deshalb diese Strafe als Einsatzstrafe ausgeworfen. Die Gesellschaftsgefährlichkeit dieser Handlungen ergibt sich vor allem daraus, daß die westdeutschen Revanchisten solche Bürger beeinflussen und mißbrauchen für ihren Kampf gegen die DDR. Schriftsteller zu sein verlangt schon immer eine große Verantwortung. Schriftsteller zu sein, bedeutet mitzuarbeiten an der Erforschung und der Verbreitung der öffentlichen Meinung, bedeutet darüber hinaus mitzuwirken an der Erziehung des Volkes, an der Erziehung zum Guten und zum Schönen, mitzuarbeiten an der Verhinderung des Krieges und zur Festigung des Friedens. Das können die Militaristen und Revanchisten nicht, das können auch nicht die Schriftsteller, die sich in Lohn und Brot bei den Klerikal-Faschisten begeben. Deshalb erlangt die Handlung des Angeklagten diese große Gesellschaftsgefährlichkeit. Der Angeklagte hat durch sein Handeln dazu beigetragen, daß junge Menschen gegen die DDR aufgehetzt wurden. Die Sammlung seiner Nachrichten sollte dazu dienen, um weite Bevölkerungskreise in Westdeutschland im Sinne der Bonner Militaristen ebenfalls gegen die DDR aufzuputschen. Unter Berücksichtigung all dieser Umstände legte der Senat die Gesamtstrafe mit 3 Jahren und 6 Monaten Zuchthaus fest, die damit auch dem Antrag des Staatsanwaltes entspricht.
Die Anrechnung der Untersuchungshaft ergibt sich aus § 219 Abs. 2 StPO.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 353 StPO in Verbindung mit § 2 StKVO.Eildermann
Hofmann
Haase
Abdruck mit freundlicher Genehmigung aus: 'europäische ideen‘, Heft 77, 1991. Bezug über Buchhandlung Zimmermann, Schloßstr.29, 1000 Berlin 19, Tel. 3424044, 5DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen