: Wo du leben willst, gehe hin!
■ Das 19. Jahrhundert als Zeitalter der Übersee-Massenauswanderungen
Das 19. Jahrhundert als Zeitalter
der Übersee-Massenauswanderungen
VONDIETHELMKNAUF
„O Cassel, o Cassel,
Verdammtes Jammerthal!
In dir ist nichts zu finden
als lauter Angst und Qual.
Die Offizier sind hitzig,
Der Stolz ist gar zu groß:
Ach das verfluchte Leben,
Das man da führen muß!“
Rezitativ:
„Juchheißa nach Amerika,
dir Deutschland gute Nacht.
Ihr Hessen präsentiert's Gewehr,
der Landgraf kommt zur Wacht.
Ade Herr Landgraf Friederich,
du zahlst uns Schnaps und Bier,
schießt Arme man und Bein uns ab,
so zahlt sie England dir.“
Diese Verse stammen aus dem späten 18. Jahrhundert und sind eine Umdichtung des promilitaristischen Marsches Wir preußischen Husaren. Hessische Soldaten, die der Landgraf Friedrich II. an den König von England verkauft hatte, haben sie bei der Abschiedsparade gesungen. Zwölftausend Mann, fast drei Viertel der kurhessischen Armee, waren zum Kampf gegen die amerikanische Unabhängigkeit zwangsdeportiert worden. Hinzu kamen noch etwa fünf- bis sechstausend Soldaten aus Südhessen und zehn- bis zwölftausend aus Württemberg und Braunschweig, so daß fast dreißigtausend deutsche Soldaten in Nordamerika eingesetzt waren.
Zu den Preliminarien der großen überseeischen Auswanderung gehört neben der Zwangswanderung der Soldaten die Vertreibung religiöser Glaubensgemeinschaften aus Europa. Berühmt sind in diesem Zusammenhang die Pilgrim Fathers, die 1620 nach Amerika gelangten. Die erste Siedlung wurde mit Jamestown, Virginia, jedoch schon 1607 gegründet. Dorthin waren auch die ersten Sklavenschiffe unterwegs, zwei Jahre vor den mythischen Gründungsvätern Amerikas. Auch deutsche religiöse Siedlungsgemeinschaften sind schon im 17. Jahrhundert zu finden, die Krefelder Mennoniten, die mit Germantown in der Nähe Philadelphias die erste deutsche Siedlung gründeten, später dann Pietisten und Herrenhuter aus Frankfurt und die Salzburger Protestanten.
Knapp fünfzig Millionen Menschen sind bis heute von Europa in die USA ausgewandert — eine gigantische Massenbewegung. 1854 wanderten in einem Jahr allein 230.000 Deutsche aus. Durch die New Yorker Einwandererstation Ellis Island wurden um die Jahrhundertwende täglich mehr als fünftausend Menschen geschleust, der Rekord im Jahre 1907 lag bei über elftausend — pro Tag.
Help Ju selfs und harte Arbeitshetze
„Meine Frau hat das Heimweh; sie weint Tag und Nacht und sagt, wären wir noch einmal in Deutschland. Und ich bin des Nachts in Deutschland, auch schon verschiedenemal bei Dir; aber des Morgens bin ich wieder im Gelobten Land Amerika. Und Du, lieber Freund, weißt, was mich hingezogen hat. Ich habe den Sommer hindurch hart arbeiten müssen für die Reiseunkosten. Da wird manch einem gut von hier heraus geschrieben, aber wenn er hier anlangt, sieht er zu seiner größten Verwunderung, daß alles gestunken und gelogen ist. Aber es reuet mich doch nicht, daß ich hier im Lande bin, denn hier kann man eher zu etwas kommen als wie in Deutschland. Hier auf dem Lande ist mein Geschäft nicht viel wert; aber Wagenmacher verdienen hier viel Geld, man muß aber Englisch sprechen können, das ist die Hauptsache. Ich werde mir Mühe geben. Ich kann schon viel, aber noch nicht alles. Hier im Lande wird alles per Du angeredet, mag sein, wer will, ob es der Präsident ist oder Pastor, man braucht nicht die Mütze zu ziehen, vor keinem. Es heißt aber auch hier, wenn man hier an einem fremden Tisch ist: help Ju selfs, so auch in andern Sachen.
Wer hier nicht schafft, der ist so gut nichts wie in Deutschland. Es geht alles per Dampf hier, schluderich, aber schnell. Die Lebensart ist billig hier. Fleisch gibt's hier dreimal am Tag: zum Brökfest, Dinner und Sopper. Das heißt Morgen-, Abend- und Mittagessen“, so schreibt Joseph Willms 1883 aus Glen Haven an seinen Freund Joseph Klein in Blankenheim.
Die Lebensbedingungen in der Heimat, Hunger, Mißernten, Pauperismus, Erbrecht, starre gesellschaftliche Hierarchien, die wirtschaftliche Initiative lähmten, die Privilegien von Klerus und Adel, ungerechte Steuern und Abgaben, politische und religiöse Unfreiheit hatten die Menschen zur Auswanderung veranlaßt. Die industrielle Entwicklung zersetzte traditionelle Sozialgefüge des Dorfes und der Familie. „Amerika“ wurde zur Verkörperung der Hoffnung auf ein besseres Leben. Der Mythos erreichte paradiesische Qualität:
„Erbsen, Linsen, Wicken, Bohnen
Werden groß wie die Melonen
Auf dem allerschlechtesten Land.
Im Februar tut man sie säen,
Im Monat Mai auch schon abmähen,
Wahrlich, 's ist ein Kanaan“,
heißt es etwa in einem Lied aus Ostdeutschland, das 1926 aufgezeichnet wurde. Der Brief von Joseph Willms vermittelt ein realistischeres Bild von Amerika: Es gäbe mehr und besser zu essen, wer hart arbeite, könne auch vorankommen. Englisch müsse man können. Man sei zwar freier, aber auch die Arbeitshetze sei höher.
Arbeitskräfte für industrielle Zentren
Mit der Industriellen Revolution vollzieht sich auch in der amerikanischen Gesellschaft ein tiefgreifender Wandel. Der Traum von einer Farm wurde für die Masse der Einwanderer immer unwahrscheinlicher. Der amerikanische Kontinent war erschlossen, das Land verteilt.
Die im Zuge der Industrialisierung sich vollziehende Veränderung der wirtschaftlichen und sozialen Struktur der Gesellschaft von einer vorwiegend agrarischen zu einer kapitalistisch-industriellen führte auch zu einer anderen Qualität von Wanderung nach Amerika: aus der agrarisch orientierten Siedlungswanderung (ca. sechs Millionen) wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Wanderung von Arbeitskräften in die industriellen Zentren. Diese Arbeitswanderung war mit etwa 25 Millionen quantitativ bedeutender als die Wanderung der Bauern. Das entspricht so gar nicht unserem Bild vom Auswanderer, der im Canostoga-Planwagen die Prärien besiedelt.
Und noch etwas anderes irritiert unser Bild von Amerika: Insgesamt wanderten 7 Millionen Deutsche, 4,5 Mio. Iren, 4,8 Mio. Engländer, Schotten und Waliser, 2,5 Mio. Skandinavier, 5,1 Mio. Italiener, 3,4 Mio. Menschen aus dem zaristischen Rußland und 4,2 Millionen aus dem alten Österreich-Ungarn nach Amerika. Beeindruckende Zahlen, ganz sicher. Rückwanderer wurden allerdings erst ab 1907 in Statistiken erfaßt. Danach kehrten ca. 34 Prozent der Migranten wieder in ihre Heimat zurück. Für einige ethnische Gruppen (Italiener, Polen) erreichte diese Quote in bestimmten Zeiten über 60 Prozent, und bei den Deutschen, die als besonders aufstiegsorientiert und assimilationswillig galten und gelten, auch immerhin noch zwischen 12 und 15 Prozent.
Nicht immer erfolgreiche Rückkehr
Sicherlich finden sich in der Kategorie der Rückwanderer ganz unterschiedliche Leute, der junge Kaufmann, der nach ein paar Jahren in New York wieder nach Hamburg geht, der Arbeiter, den lange Arbeitslosigkeit wieder aus Ohio ins Rheinland treibt, wobei in beiden Fällen bei der Auswanderung nicht klar sein mochte, ob sie auf Dauer sein sollte; der wohlhabende Pensionär, der seinen Lebensabend in der alten Heimat verbringen will. Mit Sicherheit sind aber auch Leute darunter, die ursprünglich bestimmt in Amerika bleiben wollten, denen aber wirtschaftliche Mißerfolge oder auch persönliche Gründe, Heimweh etwa, einen Strich durch die Rechnung machten. Eine Karikatur um 1850 zeigt einen hageren, zerlumpten Mann, seine Habseligkeiten in einem Bündel in der Hand, und einen wohlgenährten, gutgekleideten Herrn, die sich auf dem Steg zum Schiff treffen. „Ei, Herr Kübel, wohin so wohlgemuth?“ — „Nach Kalifornien“, antwortet der Gutgenährte. — Aber um's Himmelswillen, woher kommen Sie?“ — „Von Kalifornien“, entgegnet der Hagere.
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