: Woyzeck ist überall...
Woyzeck ist überall. In jeder U-Bahn. Man muß nicht lange suchen. Reiner Zufall, daß die meisten der vielen Woyzecks ihre Marie nicht umbringen. Auch den Arzt, der sein Versuchskaninchen Woyzeck nur Erbsen fressen läßt, gibt's heute noch (und sei es nur metaphorisch) — vom Hauptmann, der seinen Untergebenen triezt und tiefschürfend- melancholischen Unsinn redet, ganz zu schweigen. Woyzeck ist überall.
Wenn man Georg Büchners Stück inszenieren will, soll man nur nicht glauben, klüger als der Autor zu sein. Andreas Kriegenburg bildet sich das leider ein, schafft Stilisierungen, wo sie längst im Text stehen — und hat sich dafür von Henri Poschmann den Text „nach den Handschriften neu herstellen“ lassen: eine Pfuscherei, über die „Woyzeck“-Forscher herzlich lachen werden. So fehlt zum Beispiel die Jahrmarktszene (dafür hören wir das berühmte Großmuttermärchen gleich zweimal, darunter auch in Russisch!). Woyzeck ist eine Art mechanische Aufziehpuppe, Marie eine dusselige Punk-Trine, der Tambour eine närrische Tunte, der Hauptmann ein Depressiver mit Günter- Grass-Trommel, die Großmutter eine desolate Schlampe. Die donnernde E-Gitarre fehlt nicht, es wird viel hin und her gestürzt auf der Bühne; man schreit, was das Zeug hält.
Schauspielerei findet nur ausnahmsweise für Sekunden statt. Gar mancherlei Liedchen erklingen, darunter auch das Deutschlandlied. Warum Marie in dieser Inszenierung sterben muß, hat sich mir leider nicht erhellt. Susanne Schuboths Bühnenbild und Kostüme, gleichermaßen unansehnlich, passen zu Kriegenburgs Schwachsinn wie der Arsch zum Eimer. Erotik zwischen den Protagonisten: Fehlanzeige. Leiden: nur stark formalisiert, wie alles andere auch in dieser Produktion. Gefühle: bloß nicht! Angst davor. Lieber Hirnwixer-Theater machen. Zweieinhalb qualvolle Stunden der Stümperei, der Aufgeblasenheit, des unsinnigsten Überrumpelungstheaters. Selbst wer, unbelehrbar, immer wieder in Premieren geht, wird sich schwerlich erinnern, einen derartigen Dreck, eine derartig unverfroren gerührte Kacke erlebt zu haben. „Unverschämtheit!“ rief eine feine Dame. Da sind wir uns mal einig, gnädige Frau. Unverdienter Beifall für die feigen Schauspieler, kräftige Buhs (aber leider keine Eier und Tomaten) für den doofen Regisseur. Jede Wette: Der macht, in den Zeiten der Wilsons, Worons und Haußmanns, eine Riesenkarriere als Avantgarde-Regisseur. Denn er ist nicht irgendein irregeleiteter Jungregisseur, der's mal probieren durfte: Er soll, im Ernst, in der (eventuell) kommenden Intendanz Frank Castorf einer der Hausregisseure sein. Ist er vielleicht verwandt mit Meister Castorf, der doch in seinen eigenen Inszenierungen neben entfesselten Faxen immer wieder auch Kompetenz und faszinierende Sensibilität beweist? Volksbühnen-Zukunft mit Kriegenburg: So schlecht war mir noch nie.Klaus Nothnagel
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