DIE VERNETZTE GESELLSCHAFT
: Die Realitätsmaschine

Virtuelle Realität, Cyberspace, Telepräsenz – seit Mitte der 80er Jahre bahnt es sich an, das „medium to end all media“: das Verschwinden des Zuschauers im Bildschirm, der Eintritt des Bewußtseins ins Reich des Digitalen, Kunstwelten aus dem Computer als Erlebnisraum des Menschen.  ■ VON HOWARD RHEINGOLD

Wird die Technologie der Virtuellen Realität (VR) in der Medizin zur bildlichen Darstellung, in der wissenschaftlichen Visualisierung und für prothetische Zwecke eingesetzt, so kann sie ein lebensbereicherndes Hilfsmittel werden – ein Fenster zu unsichtbaren Welten, eine befreiende Hilfe für einen gesunden Verstand in einem dysfunktionalen Körper. Wird VR-Technologie dagegen für halbautonome Waffen, politische Desinformation, die Vermarktung suchterzeugender, aber entfremdeter Erfahrungen genutzt, besitzt sie das Potential einer lebensaussaugenden Waffe, eines gefährlichen Mittels zur Gehirnwäsche, einer Form der Gefangenschaft durch Illusion. Das volle Potential dieser Technologien wird erst in zehn bis zwanzig Jahren deutlich geworden sein. Das ist eine ideale Zeitspanne, um die Vorzüge und Gefahren der VR-Möglichkeiten in der Öffentlichkeit ausführlich zu diskutieren.

Virtuelle Realität erzeugt die Illusion des Eintauchens in eine künstliche Welt oder des Aufenthalts an einem entfernten Ort der physikalischen Welt. Um sich in die virtuelle Realität zu begeben, setzt man sich ein spezielles Gerät auf den Kopf (head- mounted display, HMD). Ein Paar winziger Fernsehkameras, eine Spezialoptik und ein Instrument, das der Kopfhaltung des Benutzers folgt, sind so in das HMD eingebaut, daß bei seiner Benutzung die normale Sicht auf die Außenwelt vollständig blockiert ist: die physikalische Welt wird durch ein dreidimensionales Abbild eines „Weltmodells“ in einem Computer ersetzt.

Ein Mikroskop des Geistes

Der HMD wird mit dem Computer verbunden, und die Bewegungen des Benutzers werden auf den Computer übertragen, der das Weltmodell auf den entsprechenden Stand bringt. Man kann hinter die Objekte sehen und erkennen, was dort ist. Man kann auf den Boden oder an die Decke sehen. Man kann aufwärts und abwärts zoomen. Statt das Abbild einer künstlichen Welt auf einem flachen Schirm zu sehen, ist der Benutzer von dem Abbild buchstäblich umgeben. Diese „virtuelle Welt“ kann aus dem Modell eines realen oder imaginären Raumes bestehen, einer Stadt, eines Moleküls, eines vollständigen Sonnensystems, des Inneren eines menschlchen Körpers – alles, was sich in einem Computer als Modell darstellen läßt.

Mit dem Computer (der manchmal als „Realitätsmaschine“ bezeichnet wird) kann auch ein Handschuh verbunden werden. Der Handschuh enthält Sensoren, die nicht nur die Position der Hand, sondern sogar das Ausmaß der Fingerbeugung verfolgen. Trägt man einen HMD und einen mit Sensoren ausgestatteten Handschuh, sieht man das Abbild einer Hand, die in dem künstlichen Raum schwebt, in den man eingetaucht ist. Bewegt man die Hand oder die Finger im physikalischen Raum, sieht man, wie sich Hand oder Finger im künstlichen Raum auf die exakt gleiche Weise bewegen. Greift man in der virtuellen Welt nach einem virtuellen Objekt, kann man es bewegen oder manipulieren – indem man es genauso manipuliert, als sei es ein physikalisches Objekt. Auch dreidimensionale akustische Räume können simuliert werden; sie verstärken die Illusion in einem Raum, der nur in einem Computer existiert.

VR bietet ein Fenster zu bisher unsichtbaren Räumen, und durch dieses Fenster kann der Wissenschaftler buchstäblich hindurchsteigen und dann direkt und körperlich mit wissenschaftlichen Abstraktionen in Kontakt treten. In der Universität von North Carolina in Chapel Hill benutzte ich einen mechanischen Arm mit Kraftrückkoppelung und HMD, um Moleküle mit meinen Händen zu manipulieren, als seien sie Spielzeuge: die Form eines potentiellen Anti-Krebs-Moleküls wurde durch ein dreidimensionales Modell dargestellt, das im Raum schwebte. Die Form eines Moleküls auf der Oberfläche eines Tumors schwebte daneben. Ich konnte den Arm benutzen, um die Moleküle wie die Teile eines Puzzles zusammenzufügen; die molekularen Kräfte konnte ich als tatsächlichen physischen Widerstand empfinden. Verstünde ich etwas von Chemie, hätte das VR-Modell als Intuitionsverstärker dienen und mir helfen können, Probleme zu lösen und andere Probleme verständlich zu machen. Andere wissenschaftliche Visualisierungen ermöglichen es, auf ähnliche Weise mit dem Wetter, dem Luftstrom über dem Flügel eines Flugzeugs und mit jedem anderen komplexen Phänomen in Kontakt zu treten, das sich durch einen Computer darstellen läßt.

Könnte ich die menschlichen kognitiven und Wahrnehmungsfähigkeiten mit der Stärke des Roboters verbinden und mit seiner Fähigkeit, in einer feindlichen Umgebung zu operieren, könnte man menschliche Techniker dazu ausbilden, eine Herde Roboter in automatisierten Fabriken zu beaufsichtigen, oder in unterseeischen Bergwerken, oder bei der Feuerbekämpfung. In Japan erlebte ich eine bizarre Erfahrung, als ich Kopf und Arm in einen VR-Kontrollapparat steckte, um einen Roboter auf der anderen Seite des Raums telezusteuern; bizarr wurde es, als ich mich selbst durch das Auge des Roboters sah und erkannte, daß mein Präsenzgefühl wirksam auf den Roboter übertragen worden war. In Hawaii, in einer Hochsicherheits-US-Marine-Basis, sah ich den Prototyp eines telegesteuerten Maschinengewehrfahrzeugs. Und in Manchester in England erlebte ich, wie die ersten Bestandteile eines telegesteuerten Feuerbekämpfers getestet wurden.

Ich habe Ansichten von Gebäuden und Städten aus der Sicht der Architekten gesehen. Ich sprach mit einem der obersten Planer für den Hafen von Seattle, der Ingenieure, Anlagenplaner, Kapitäne und Kunden zusammen in virtuelle Modelle zukünftiger Hafenanlagen führen wollte. Die gesamte hergestellte Welt besteht aus dreidimensionalen Strukturen und Objekten, und alles, was menschlichen Designern und Herstellern in ihrer Arbeit zusätzliche Möglichkeiten in die Hand gibt, vervielfacht automatisch die Menge an Reichtum, die mit der gleichen Menge an Materie und Energie hervorgebracht werden kann.

Heimelektronik des 21. Jahhrunderts

In einem gut ausgestatteten Raum auf dem Dach eines Forschungs- und Entwicklungskomplexes der Firma Fujitsu in den Außenbezirken von Tokio war ich dabei, als der Chefingenieur und einige Mitarbeiter seiner Forschungsabteilung darüber sprachen, die Fujitsu VR-Heimunterhaltung im 21. Jahrhundert so allgegenwärtig zu machen, wie es Nintendo heute ist. Fujitsu zielt auf Unterhaltung, Ausbildung und Schulung als die drei Schlüsselmärkte für eine Technologie, die es Menschen ermöglichen wird, in ihre eigenen Phantasiewelten einzutauchen, und mit deren Hilfe Studenten „in der Praxis lernen“ können, wie es der amerikanische Pädagogikphilosoph John Dewey einst forderte. Andere Riesen der Unterhaltungsbranche – Disney, Philips, LucasFilms – erforschen die Möglichkeiten in aller Ruhe. Wenn man sich erinnert, welche Rolle die Verbraucherelektronik bei der Weiterentwicklung von Industrien auf der Basis elektronischer Technologien gespielt hat, könnte allein das Unterhaltungspotential von VR zu einem starken Motor der zukünftigen VR-Entwicklung werden.

Der virtuelle Krieg

Der unmittelbarste Nachteil von VR liegt im Heraufziehen eines Zeitalters des virtuellen Krieges. Während des Golfkrieges sah die Medienwelt eine Art „virtuellen Krieg“ bereits in der Beschränkung der Pressefotografie auf die inzwischen berühmten Aufnahmen von intelligenten Bomben, die Bunker in die Luft jagten. Gleichzeitig sahen jedoch auch Flugzeugführer und Panzerkommandanten ähnliche Ansichten von Landschaften, die sie bereits zuvor in Simulationen gesehen hatten; als ich für mein Buch über VR recherchierte, sah ich durch SIMNET, das Simulationsnetz des US-Militärs zur Ausbildung von Panzerbesatzungen, Hubschrauber- und Düsenjägerpiloten in Scheingefechten auf computergraphik-simulierten Schlachtfeldern auf der Grundlage von digitalen Landkarten potentiellerKriegsschauplätze. Hier wurde Krieg zum ersten Mal im virtuellen Raum geführt. Wie Baudrillard schon gewarnt hat, geht die Karte heute dem Gelände voran. Wenn wir die Grenze zwischen einem Video-Spiel und der Vernichtung realer Menschen verwischen, beschädigen wir dann nicht die Realität?

Fragen der Macht und Kontrolle sind immer dann von Bedeutung, wenn die Technologie ein neues Medium der Unterhaltung oder Kommunikation hervorbringt: wird es einen Markt für Realitäten geben, oder werden wir die von Fujitsu oder Disney verordnete Realität kaufen müssen? Ob VR ein offenes System sein wird oder ein System geschützten Eigentums, könnte zu einer der bisher wichtigsten Fragen für die Menschheit werden. Die wichtigen Fragen, denen wir uns als Bürger stellen müssen, haben mit den Arten von Realität zu tun, die wir fördern wollen – Firmendomäne oder frei zugänglich, zentral kontrolliert oder libertär, mit Subventionen für die Anwendung in Wissenschaft und Ausbildung oder für militärisches und ökonomisches Vormachtstreben. Diese Fragen lassen sich nur von informierten Bürgern beantworten – deshalb müssen Menschen lernen, intelligenter über eine Zukunft zu sprechen, in der es möglich werden könnte, jede vorstellbare Erfahrung künstlich herzustellen.

Howard Rheingold

ist Chefredakteur der US-Zeitschrift Whole Earth Review und Autor des Buches Virtual Reality (Summit Books 1991).