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Ethik kann nicht verordnet werden

■ Stephen Jay Gouldt, US-amerikanischer Evolutionstheoretiker

Jacques Delors: Halten Sie es für möglich, daß weltweit ethische Regeln durchsetzbar sind, akzeptieren Sie als Wissenschaftler die Unterordnung der Wissenschaft unter die Ethik?

Gould: Jede menschliche Tätigkeit muß ethischen Richtlinien folgen, denn kein Imperativ ist umfassender oder zwingender als der eines angemessenen moralischen Verhaltens. Von einer solchen Unterordnung ist immer dann die Rede, wenn eine menschliche Einrichtung so mächtig wird, daß sie das Leben der Menschen beeinträchtigt und bestimmt. Daher geht man davon aus, daß Krieg, Politik und Kriminalpädagogik, anders als Kunst oder Musik, ethischen Einschränkungen unterliegen. Die Frage ist heute für die Naturwissenschaften so wichtig geworden, weil sie jetzt die praktische Macht über unser Leben hat – mit der Atombombe und der Entzifferung des DNA-Code.

Ich bin nicht pessimistisch. Ich glaube, daß der Einfluß von Güte und Anstand in der Geschichte stärker geworden ist. Unglücklicherweise ist die Effektivität der Zerstörungsmittel noch schneller gewachsen – so daß ein Hitler heute an Grausamkeit alles übertreffen kann, was hundert ähnlich Gesinnte vor tausend Jahren angestrebt haben mögen, es aber im großen Maßstab nicht verwirklichen konnten.

Ethik kann nicht zum formalen Gesetz werden, und ich glaube nicht, daß ein weltweiter Kodex angenommen und durchgesetzt werden kann. Aber man sollte eine breite internationale Diskussion dieser Fragen anregen, in der Hoffnung, daß eine auf diese Weise erzielte moralische Überzeugung dabei helfen kann, moralisches Handeln zu fördern oder wenigstens die Aufmerksamkeit der Welt auf dieses Thema zu lenken.

Abdou Diouf: In Afrika haben sich im Lauf der Jahrhunderte nützliche Kenntnisse angesammelt, die heute in der wissenschaftlichen Forschung und Technologie nicht genügend berücksichtigt werden. Wird es nicht endlich Zeit, ein großes, multidisziplinäres Laboratorium zu errichten, in dem das wissenschaftliche Erbe Afrikas entschlüsselt und bewertet wird?

Gould: Ich möchte nicht gern in den romantischen Mythos verfallen, daß nichtindustrielle Gesellschaften per se in wesenhafter Harmonie mit ihren Ökosystemen leben. Sicher haben viele vorindustrielle Gesellschaften wichtige Tierarten ausgerottet, so die Moari die Moas in Neuseeland, und wahrscheinlich haben die eingeborenen Amerikaner dazu beigetragen, die großen Säugetiere der Eiszeit auszurotten.

Aber andererseits müssen wir noch entschiedener den schädlichen (und rassistischen) Glauben zurückweisen, der noch von vielen Bürgern der industrialisierten westlichen Nationen geteilt wird, daß nur ihre „offizielle“ Naturwissenschaft nützliche Fortschritte gemacht habe. Alle Völker leben umgeben von Hunderten von Pflanzen- und Tierarten, von denen viele als Nahrungs- oder Heilmittel für die Menschen von Wert sind. Daher machen alle Völker wichtige Entdeckungen über den Wert der lokalen Pflanzen und Tiere und über eine vernünftige Behandlung ihrer Umwelt. Es ist absurd und chauvinistisch anzunehmen, daß Angehörige einer fremden Kultur, die wenig über die lokale Fauna und Umwelt wissen, in eine Region kommen könnten und auf jedem Fall die besseren Antworten hätten, nur weil sie eine Methodologie – die modernen Naturwissenschaften – importieren.

Toshiki Kaifu: Bis jetzt waren Wissenschaft und Technologie von der Vorstellung geleitet, es gebe für sie keine Grenze. Diese Vorstellung ist heute erschüttert. In welche Richtung sollten sie sich nach Ihrer Meinung jetzt orientieren? Oder meinen Sie, daß es möglich ist, ihre Widersprüche zu überwinden und ihnen neue, unbegrenzte Entwicklungsperspektiven zu geben?

Gould: Die Grenzen der Wissenschaft entstammen nicht ihrer eigenen Methodologie, denn Wissenschaft ist ein Unterfangen, das die empirische Welt analysieren und erklären will. Das Streben nach Erkenntnis sollte keine Grenze haben – außer der unserer Unwissenheit selbst. Die Grenzen entstammen eher der übergeordneten ethischen Sphäre – und nicht ohne Grund stoßen wir erst in unserem eigenen Jahrhundert darauf: die Wissenschaft ist schließlich so mächtig geworden, daß ihre Anwendung praktische Konsequenzen auslöst, die unmittelbar das Leben von Millionen betreffen. Die Wissenschaft zu Newtons Zeit war nicht anders, sie war nur zu schwach und folgenlos, um die ethische Sphäre zu berühren. Da die ethischen Prinzipien und die Gründe für Grenzen nicht aus der wissenschaftlichen Argumentation entstehen, können wir uns nicht darauf verlassen, daß die Wissenschaftler sich selbst kontrollieren.

Wissenschaftler müssen sich mit Kollegen anderer Bereiche zusammentun – mit Philosophen, Politikern, eigentlich mit allen Männern und Frauen, deren Leben im Beruf oder auf andere Weise von Wissenschaft berührt wird –, um sich über deren Folgen zu verständigen. Was immer das Resultat ist: Nur Auswirkungen sollten begrenzt werden. Für das Recht, jeden Bereich zu erforschen und die Wahrheit der Natur zu erkennen, wie unangenehm auch immer es im Licht unserer Hoffnungen und Neigungen sein mag, sollte es keine Einschränkung geben. Dies ist vielleicht das höchste aller ethischen Prinzipien.

Stephen Jay Gould geboren 1941 in New York, lehrt Paläontologie und Wissenschaftsgeschichte an der Harvard University. Das neueste Buch des Evolutionstheorektikers heißt „Die Entdeckung der Tiefenzeit“ (1990).

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