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Der Morgen der Blindgänger

■ Abenteuersuche im Sylvestermüll / Hit der Saison: „Wiedervereinigungsrakete“

Kind vor

Spielplatz-Gitter

Sprint zum Geheim-Depot für Bleiguß-Schätze, noch ziemlich brauchbare Raketen-Stöckchen, fast neue Knallplättchen F: H. Maillet

Neujahrsmorgen. Der Himmel ist grau, die Straßen fast menschenleer. Nur wenige fröstelige Gestalten tappen durch die Gegend. Fffffft! Ein Knaller zischt durch eine Viertel-Nebenstraße. Zwei Steppkes verschwinden um die

Ecke. Während Ihre Eltern vermutlich noch auf Bett oder Sofa die Sylvesternacht nachwirken lassen, streifen sie abenteuerlustig zwischen den Resten der Nacht der Nächte herum. Wie sie sind auch noch andere unterwegs. Allein oder zu zweit streunen sie durch die Straßen, den Blick fest auf's Pflaster geheftet. Sie sammeln „Blindgänger“.

Etwa eine Million Mark investierten die BremerInnen diesmal für einen krachenden Einstieg in das Jahr 1992, allen Appellen der Wohlfahrtsverbände zum Trotz. Begeisterte Zündler geben nicht selten zwischen 40 und 50 Mark für den flüchtigen Sternenregen aus. Das hat der Einzelhandelsverband Nordsee errechnet. Als Verkaufsschlager machte der „Weser—Report“ die „Wiedervereinigungsrakete“ aus, rätselhafterweise in Schwarz, Rot, Gold. Vor allem das Kind im Mann konstruierte nach Herzenslust Raketenabschußbasen und und komponierte Knallerorgien.

Alles, was von Böllern, Krachern, Sonnen und Chinesen übrigbleibt, stößt am Morgen danach auf das verschärfte Interesse der Kleinen. Mit Schuhspitzen und Stöckchen stochern sie in den Häufen aus Glassherben, Papierschlangen und vermatschten Pappröllchen herum, die die Erwachsenen hinterlassen haben — eine Schar von „Sachensuchern“, wie weiland Pippi Langstrumpf. Gebrauchen können sie rätselhafterweise fast alles, besonders scharf aber sind sie auf die nicht abgebrannten Feuerwerkskörper.

Ein Knabe verschwindet kurz zwischen zwei parkenden Autos. Triumphierend taucht er mit einem grünlichen Pappröllchen wieder auf. Sein Freund hat schon das Feuerzeug parat. Mist - der Schatz kokelt zwar, geht aber nicht los, zu feucht. Also weg damit. Eine Ecke weiter führen zwei Mädchen einen Hund spazieren. Ein Junge ist ihnen auf den Fersen. Knallerwettsuchen. Eins der Mädchen bückt sich blitzschnell. Ätsch! Der Knaller gehört ihr. Wumm! dröhnte es eine Minute später. In den menschenleeren, schmalen Straßen hallen die Böller besonders laut.

Findige Viertel-Kids grasen schon nachts um drei die Sielwall- Kreuzung ab. Das Pulver aus den erbeuteten Raketen und Kanonenschlägen wird rausgekratzt und mittags feierlich auf einem Balkon hochgejagt. Ein Eimer Wasser steht griffbereit daneben, „um den Erwachsenen die Angst zu nehmen“. Auch wer auf Bremens zentraler Abschußrampe, dem Marktplatz, fündig werden will, muß früh aufstehen. Die Stadtreinigung fegt hier schon ab vier Uhr alles wieder touristensauber. Nur an der Treppe zum Schütting hat der Wind noch ein paar braune Pappröllchen zusammengepustet, die gelinden Schwefelduft verströmen.

Vor dem Astoria sind Vater und Sohn unterwegs. Der Junge trägt eine Plastiktüte unter dem Arm, aus der schon Massen von Rakentenstöcken staken. Alles Blindgänger der letzten Nacht? „Nein“,sagt der Vater, „er sammelt nur das Holz der abgebrannten Raketen, zum Basteln.“ Der Filius jedoch gewährt voller Besitzerstolz einen Blick in seine Jackentasche: rote, grüne, gelbe Knaller, völlig intakt, nur noch ein bißchen feucht. Das sind die Dinger meistens. „Zum Glück“, sagt ein Polizeisprecher, „deshalb hat es bisher noch keine ernsthaften Unfälle gegeben.“ asp

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