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ESSAYEin neues Zeitalter?

■ Mit den gegenwärtigen Umwälzungen zeichnet sich eine neue Systemdebatte ab

Meine liebe Eva“, sagte Adam, als die beiden den Garten Eden verließen, „wir leben in einer Zeit des Wandels.“

Seit man sie kennt, stehen die Menschen Veränderungen äußerst feinfühlig gegenüber. Jede Generation neigt zu der Ansicht, sie entdecke gerade eine neue Welt und werde ihren Kindern eine tiefgreifend veränderte — meist schlechtere — Welt vererben. Lukrez glaubte, die Götter hätten die Welt längst aufgegeben, und zog als Beweis dafür die Bauern seiner Zeit heran: Jeder würde bereitwillig erzählen, um wie viel schwieriger der Lebensunterhalt heute wäre, im Vergleich zu des Vaters Zeiten.

So sollten wir vorsichtig sein. Wir gehen auf das Ende des zweiten Milleniums zu und sind überzeugt, einem Wendepunkt der Weltgeschichte beizuwohnen — aber wer weiß? Vielleicht betrachten unsere Enkelkinder im Jahre 2050 die letzten hundert Jahre als Kontinuum, als „alte Weltordnung“, mit 1991 als bloßem Pünktchen.

Banaler Liberalismus

Vor zwei Jahren wurde Francis Fukuyama, ein amerikanischer Politologe, damals unter Zeitvertrag beim US-Außenministerium, mit Spott überhäuft. Er hatte gemeint, das „Ende der Gechichte“ erspäht zu haben; und tatsächlich war dies ziemlich aufgeblasen. Doch Fukuyama verdient Lob und Preis dafür, daß er seinen Artikel im Sommer 1989 veröffentlichte, denn erst die nachfolgende Reihe von Revolutionen in Osteuropa und insbesondere der tatsächliche Zusammenbruch der Sowjetunion haben aus seiner Erkenntnis eine Banalität gemacht. Die Banalität lautet: Die Ideologie des politischen und ökonomischen Liberalismus, im letzten halben Jahrhundert geopolitisch mit dem „Westen“ gleichgesetzt, sieht sich keinem Wettbewerb irgendeines zusammenhängenden Rivalen mehr ausgesetzt. Wie Ralf Dahrendorf es gerne sagt: „Es gibt keine Systemdebatte mehr.“

Zu Stalins Zeiten glaubten Millionen von Menschen in aller Welt an den Kommunismus. Sogar Chruschtschow mag daran geglaubt haben, als er dem Westen erklärte: „Wir werden euch begraben.“ Doch gegen Ende der Breschnew-Ära glaubte keiner mehr daran, am allerwenigsten diejenigen, deren Aufgabe darin bestand, den Kommunismus in der Praxis funktionieren zu lassen. Sie beurteilten Erfolg oder Mißerfolg im Vergleich mit dem Westen und suchten — ihrem ursprünglichen Geiste völlig fremd — Rechtfertigung für die Beibehaltung ihres Systems in Argumenten wie der Wahrung politischer und sozialer Stabilität.

In China ist das noch heute so. Die chinesische Führung hat mit ihrer Unterwerfung des Marktes als Wachstumsmotor unter den kommunistischen Überbau als Mechanismus der sozialen Kontrolle bis jetzt viel mehr Erfolg gehabt als ihr sowjetisches Gegenstück. Es erscheint als eine künstliche Lösung, und man kann an ihrer Dauerhaftigkeit zweifeln. Doch die interessante Frage ist, ob China nicht eine ideologische Alternative zum liberalen Kapitalismus schaffen könnte — als neues Weltmodell für die vielen Entwicklungsländer, welche den gepriesenen japanisch-koreanisch-taiwanesischen Weg zum Wohlstand nicht nur schmerzhaft, sondern auch unerreichbar finden.

Pragmatisches Wirrwarr

Währenddessen haben Dahrendorf und Fukuyama recht. Es gibt heute keine „Systemdebatte“, die Staaten voneinander trennt. Es gibt nur ein Riesenwirrwarr pragmatischer Argumente über die beste Handlungsmöglichkeit in einer Situation, verknäuelt mit schönen altmodischen Interessenkonflikten. Dies bedeutet, daß internationale Organisationen nicht mehr systematisch von einer Seite blockiert werden, um der anderen einen Vorteil zu verwehren. Diese Organisationen können nun, wie eigentlich vorgesehen, dem gemeinsamen Herangehen an gemeinsame Probleme dienen.

Das Ende des kalten Krieges und die darauf folgende Verfügbarkeit internationaler Organisationen für ernsthafte Angelegenheiten sind die wichtigsten Merkmale, die dem jetzigen Zeitpunkt den Status eines geschichtlichen Wendepunktes verleihen könnten. Und hier fängt auch die Diskussion über die Idee eines „neuen Zeitalters“ an.

Beide Merkmale gehören zum von Marx so bezeichneten „Überbau“ politischer Insitutionen und Ideen. Und es stimmt nicht, daß zusammen mit dem Kommunismus alle Ideen von Marx auf dem Müllhaufen gelandet sind. Sein Hinweis auf den Primat sozioökonomischer Faktoren zur Erklärung politischen Verhaltens ist noch immer weithin anerkannt, auf der Rechten genauso wie auf der Linken. Wenn wir sagen, daß wir uns am Eintritt in ein neues Zeitalter befinden, fühlen die meisten von uns instinktiv, daß unsere Aussage weiter und tiefer reicht als bloße Politik. Es geht um Grundkräfte, die unsere gesamte Lebensart und damit auch unser Denken neu ordnen.

Hinter dem Politdrama

Was sind diese grundlegenden Neuheiten? So neu sind sie eigentlich gar nicht. Aber es liegt im Wesen tiefgreifender sozialer Veränderungen, daß sie nicht von einem Tag auf den anderen stattfinden. Das unmittelbare Drama der Politik ist ihnen fremd.

— Die erste Veränderung scheint schon ziemlich abgegrast: die weltweite Bevölkerungsexplosion. 1950 gab es 2,4 Milliarden Menschen. Heute sind es 5,3 Milliarden, und selbst nach den optimistischsten Prognosen wird die Bevölkerung noch auf bis knapp 15 Milliarden anwachsen — gegen Ende des nächsten Jahrhunderts. Nicht alle sehen darin ein Problem. Doch es ist wohl unbestreitbar, daß es sich um eine hochgradig bedeutsame Veränderung handelt.

— Danach, fast genauso bekannt und natürlich mit der ersten verknüpft (wenn auch nicht notwendigerweise direkt), kommt die Verknappung der endlichen Ressourcen der Erde, hauptsächlich durch menschlichen Verbrauch und Zerstörung. Auch hier halten dies manche für ein weniger großes Problem, als behauptet wird. Schwer zu bestreiten ist aber, daß dieses Thema in der Rangliste der Weltdiskussion rasch steigt und im Laufe des nächsten Jahrzehnts sogar dominieren könnte.

— Gleichzeitig verändert Technologie unser Leben auch auf andere Weise. Viele Kommentatoren verknüpfen das Ende des Kommunismus mit der Entwicklung der Informationstechnologie, die die Manipulation der öffentlichen Meinung durch ein einziges autoritäres Zentrum erschwert. Auch die Computerindustrie benötigt die Herausbildung einer höher gebildeten und initiativeren Arbeiterschaft, die politischer Manipulation gleichsam mehr Widerstand entgegensetzt.

— Mit dem letzten Punkt ebenfalls verbunden, und am Überschneidungspunkt von Basis und Überbau gelagert, ist die weltweite Neubewertung der Rolle des Staates. Kommunismus, so läßt sich argumentieren, war nur eine extreme Version der im zwanzigsten Jahrhundert herrschenden Ansicht: daß Planung und Staatsintervention die Gesellschaft verbessern. Ebenso ist dann sein Ende nur die dramatischste Auswirkung des allgemeinen Abrückens von dieser Ansicht und der Rehabilitierung von Einzelinitiative und Adam Smiths „unsichtbarer Hand“ als einzige verläßliche Mittel der Verbesserung.

Zufluchtsort Staat

Hier liegt vielleicht der Kern einer neuen „Systemdebatte“. Auf der einen Seite werden diejenigen stehen, deren Vertrauen in die unsichtbare Hand durch Furcht untergraben wird: Furcht, daß unbehindertes Bevölkerungswachstum und Ressourcenzerstörung die Erde bald unbewohnbar macht. Auf der anderen finden sich diejenigen, die solche Befürchtungen schnell zurückweisen, da sie in ihnen Ausreden für einen neuen Interventionismus sehen, der wieder einmal die Einzelinitiative unterdrückt und die Menschheit zu einer Orwellschen Welt der Stagnation verurteilt.

Treten wir also in ein neues Zeitalter ein? Mögen zumindest unsere Enkelkinder das Jahr 2050 noch erleben, um dieses Urteil in angemessener historischer Perspektive fällen zu können. Edward Mortimer

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