Rot-Grün ist zur Zeit kein geeignetes Modell für Berlin

■ Ein Jahr nach dem Ende der AL/SPD-Koalition/ Erst »eine prosperierende Wirtschaft erlaubt es, die Frage nach mehr Demokratie und Ökologie zu stellen«

Vor gut einem Jahr zerbrach die SPD/AL-Koalition in Berlin (West) am Konflikt um die Räumung besetzter Häuser in der Mainzer Straße in Berlin (Ost). Rot-Grün war von Hoffnungen, ja Euphorie begleitet. Als das Wahlergebnis vom 29. Januar 1989 eine solche Konstellation rechnerisch möglich machte, trug die aktive Parteibasis von SPD und AL ihre jeweils skeptischere Führung geradezu auf plebiszitärer Woge in dieses Bündnis. Ein kühnes, radikaldemokratisches Reformprojekt wurde vereinbart; »streitige Zusammenarbeit« sollte der Umgangsstil sein.

Was herauskam, ist bekannt. Dabei ist die Reformbilanz der kurzen Regierungszeit durchaus besser, als das Endergebnis (Koalitionsbruch, Wahlniederlage für beide Ex-Partner, große Koalition) vermuten läßt. Die Umweltkarte bei der BVG, Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung, das Landesantidiskriminierungsgesetz, ein demokratisches Hochschulgesetz, ein fortschrittliches Energiespargesetz — und bei alledem eine solide, stabile Wirtschaftsentwicklung im Westteil der Stadt. Fürwahr nicht wenig in so kurzer Zeit.

Dann aber kam die Einheit. Schon am 10. November 1989 war die AL nicht bereit, einer gemeinsamen Entschließung des Abgeordnetenhauses zuzustimmen, in der von Einheit und Zusammenwachsen die Rede war.

Und damit begann der Krampf. Eine Krisensitzung jagte die andere, der Koalitionsausschuß tagte in Permanenz, die tägliche Koalitionskrise und der tägliche Formelkompromiß wurden für die Berlinerinnen und Berliner zum Ritual. Und das mußte den Eindruck der Handlungsunfähigkeit in einer Zeit hervorrufen, in der schnelles und unkonventionelles Handeln gefragt war. Die Bewältigung des Einheitsprozesses, die Hauptstadt- und Olympia-Bewerbung, die drohende Finanzkrise aufgrund Bonner Ignoranz — und das bei Rot-Grün? Das Ergebnis vom 2. Dezember ist auch dadurch zu erklären.

Aber es gibt tieferliegende Ursachen, aus denen ich auch schlußfolgere, daß Rot-Grün auf absehbare Zeit kein Modell für Berlin oder eines der anderen neuen Bundesländer sein kann. Rot-Grün ist ein Meliorationsmodell. Eine prosperierende Wirtschaft, eine hinreichende soziale Sicherung erlauben es, die Frage nach mehr Demokratie und Beteiligung, nach Vorrang der Ökologie, mehr sinnvoller Freizeit u.a.m. zu stellen. Mit anderen Worten: Eine rot-grüne Politik paßt zur alten Bundesrepublik, zu einer hochentwickelten, an die Grenzen sinnvollen Wachstums stoßenden Industriegesellschaft.

Jetzt haben wir — im Ostteil der Stadt und den neuen Bundesländern — eine grundlegend andere Situation. Der realexistierende Sozialismus hat abgewirtschaftet. Riesige Industriekomplexe liegen brach. Bau- und Anlageninvestitionen brauchen freie Fahrt. Die Versorgung mit Arbeitsplätzen, Wohnungen, wirtschaftsnaher Infrastruktur, zumutbaren Verkehrswegen steht dringend auf der Tagesordnung. Technikfeindlichkeit oder auch nur die von Grünen/AL immer wieder versuchte »basisdemokratische« Kontrolle von Forschungs- und Technologieförderung sind heute Investitionsbremsen.

Wir haben — und wir brauchen — so etwas wie Gründerjahre. Da erweisen sich schon die Regeln der alten Bundesrepublik, an die sich die Verwaltung klammert, als Hemmnisse und Faktoren der Verlangsamung. Rot-grünes Dauerkrisenmanagement in solcher Zeit? Unvorstellbar!

Grüne/AL hatten seit ihrem Auftreten zwei neue Elemente in der Parteipolitik eingeführt: Ökologie und Basisdemokratie. Das ökologische Motiv war so erfolgreich, daß es heute kein Markenzeichen der Grünen mehr ist. Alle Parteien haben den Umweltschutz im Programm. Unternehmen werben damit, wie umweltfreundlich ihre Produkte dank Forschung und Entwicklung geworden seien. Wie auch anders, denn die bewußter gewordenen Konsumenten fragen genau Derartiges nach. Gewaltige Summen werden in Bodensanierung, Entschwefelungsanlagen, Asbestsanierung von Gebäuden, Wärmedämmung und Blockheizkraftwerke investiert. Ohne die Grünen wäre das alles so nicht zustande gekommen; unverwechselbar sind sie mit dem ökologischen Programm jedoch nicht mehr.

Die Basisdemokratie ist gescheitert

Und die Basisdemokratie? Rotation, imperatives Mandat und die ständige Mitentscheidung aller über alles sind schlicht gescheitert, weil sie ins Chaos geführt haben. Es geht in einer komplexen Gesellschaft nicht ohne repräsentative Demokratie, nicht ohne einen eigenen, zeitlich begrenzten Handlungsspielraum für die Gewählten in Legislative und Exekutive. Wer entscheiden muß, aber aus Basisrücksichten nicht entscheiden kann, muß das Vertrauen der Wählerinnen und Wähler verlieren, die eben nicht laufend in nächtelangen Vollversammlungen sitzen und von ihren politischen Repräsentanten Ergebnisse, nicht endlosen Prinzipienstreit erwarten.

Grüne/AL sind im tiefsten Inneren zu sehr die Anti-Partei geblieben, die sie anfangs sein wollten, als sie fern von Regierungsverantwortung das Salz in der Suppe der »Etablierten« waren. Nur: Regieren heißt auch Entscheiden, und dem Klientelismus entsagen, der bei jedem Basisprotest gegen eine Entscheidung eingefordert wird.

So mögen in Niedersachsen und Hessen die rot-grünen Regierungen funktionieren. Sie haben nicht die Probleme Berlins und der übrigen neuen Bundesländer. Brandenburg ist nur bedingt zum Vergleich heranzuziehen. Die dortigen Bündnis-90- Leute sind keine Grünen, sondern demokratische Pragmatiker, die wissen, was jetzt wichtig ist.

Ich sehe auf lange Zeit keinen Ansatz für eine Erneuerung von Rot- Grün in Berlin. Zwar hat sich auch die SPD durch »grüne« Themen gewandelt. Aber sie bleibt eine Partei, die Regierungsmacht anstrebt und mit ihr auch umgehen will. Und das muß wohl auch so sein.

Die Menschen in den östlichen Bezirken werden uns in einigen Jahren nicht fragen, wie gründlich und langanhaltend wir diskutiert, sondern was wir für ihre Arbeitsplätze, Wohnungen und Straßen entschieden haben. Hans Kremendahl

In der morgigen Ausgabe erscheint zu diesem Thema ein Interview mit dem grünen Umweltsenator in Bremen, Ralf Fücks.