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DAS BERLINER VIERNÄCHTE-ABKOMMEN Von Philippe André

Es beginnt am 29. Die Tage davor sind lediglich als Generalmanöver zu betrachten. Die verschiedenen Waffengattungen werden noch mal getestet, in jedem Fall aber die durch Christi Geburt entstandene tödliche Stille und Leblosigkeit der Stadt schon mal vorsorglich gesprengt. Der eigentliche Krieg dauert dann genau vier Tage. Ausgefochten wird er normalerweise von den Berlinern, die sonst eher sauer sind, wenn's knallt. Diesmal jedoch übernahmen die „anderen“ Berliner zusätzlich noch ab zwei Uhr fliegend und machten ein wenig Zoff im Kiez. Am 2.1. mündet die Knallerei in diese neue Form des Waffenstillstands, die sich unschlüssig gibt und über den Jänner erstreckt. Da gedeiht der Wunsch nach dem einstigen Lärmpegel so richtig üppig. In diesen vier Nächten — und Tagen — gehört die Straße den Knallern und Durchgeknallten, den marodierenden Jahresend-Ninjas und Böllerjägern. Der Lärm ist höllisch, die Straßen ein wahres Inferno. Zum Bäcker gelangt man nur durch ein Kreuzfeuer von Raketen, Heulern und bösen Rohrbomben. Das Haus kann ohne Ohrenschützer und kniehohe DocMartens kaum verlassen werden. Allein von Reichelt bis nach Hause erschreckte ich viermal zu Tode und wäre beinahe von einer Paketbombe zerfetzt worden. Dabei ist das Schlimme an dieser Form der Bewältigung des Vergangenen die typische Verbissenheit, mit der sie angepackt wird. Ihren destruktivsten Ausdruck erfährt jene Variante preußischer Fröhlichkeit in der Stunde der Umarmungen, der Glückwünsche und in die Ohren gesäuselter Versprechungen: Prosit Neujahr! Da geht die Lucie ab! Wie ein Karnickel auf Treibjagd muß sich so ein jeder fühlen, der ausgerechnet jetzt schützendes Obdach verläßt. Er sieht sich eingekesselt von einem unerbittlichen Boden-Luft- Krieg, und im Umkreis von 40 Metern ist er das einzige bewegliche Weichziel. Er bleibt es auch, nur die Gegner wechseln dauernd. Wer sich die Mühe macht, die Dinge in dieser Nacht von oben zu sehen, z. B. aus dem 4.Stockwerk eines x-beliebigen Wohnhauses in Berlin-Mitte, der weiß, daß nicht nur Berliner Kids unter Abenteuermangel leiden. Die Wohnungsfenster sind vorübergehend zu waffenstarrenden Festungsschlitzen geworden, Familienväter zu überragenden Feldherren. Ihre Abschußrampen richten sich auf die gegenüberliegende Front und umgekehrt. Red Jumpers gegen Long Star Breakers und ab! An Schlaf ist in diesen vier Tagen natürlich nicht zu denken. Was die Kreuzberger nun nachts im Bett tun, erinnert mehr an den verzweifelten Versuch, einen vier Tage alten Herzstillstand mittels Elektroschocksalven zu beheben. Das neue Jahr beginnen wir daher traditionell in einem Zustand erhöhter Fahrigkeit. Dies hat zur Folge, daß die ersten und daher wichtigen Entscheidungen meist Fehlschlüsse sind, was nunmehr dazu führt, daß der Berliner das neue Jahr dann auch gleich wieder abschreibt. Wieda nüscht! Nun will er, daß es möglichst schnell verstreicht. Nur deshalb hat es der Berliner immer so eilig. Eigentlich nur deshalb.

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