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Der Klang der Träume

Eine Erinnerung an den Jazzmusiker Rahsaan Roland Kirk (1936—1977)  ■ Von Christoph Wagner

Himmlische Musik, die in der Stratosphäre lebt!“ — John Zorn tut sich schwer, für das Saxophonspiel von Roland Kirk die passenden Worte zu finden. Im starren Raster der Stilchronologie, in das die Jazzgeschichte oft gepreßt wird, sind solche überirdischen Klänge kaum unterzubringen. Darin liegt von Anfang an das Problem des schwarzen Multiinstrumentalisten: Seine musikalischen Visionen sind zu universell, als daß sie in engen Schubladen Platz fänden.

Schon sein Auftauchen auf der Jazzszene Anfang der sechziger Jahre sorgt für Irritationen, spielt er doch — ohne Stilschablonen — die schwarze Tradition rauf und runter: Jazz, Spirituals, Blues — und will noch darüberhinaus: „Ich will einfach spielen, und ich bilde mir ein, ich könnte ebensogut mit Frank Sinatra wie mit B.B. King, mit den Beatles oder mit einer Polka-Band auftreten, und die Leute würden das gerne haben.“

Roland Kirk, der sich seit 1969 Rahsaan Roland Kirk nennt, weil ihm das eine Stimme im Traum eingeflüstert hat, ist ein musikalischer Überzeugungstäter, dem es genügt zu wissen: „God loves black sound!“ Das ist ihm Verpflichtung genug. Als Afro-Amerikaner fühlt er ein inneres Gebot, seinen Teil zum Überleben des Erbes der schwarzen Musik beizutragen. „Ich sehe eine Verantwortung auf mir lasten, wenn ich das Saxophon in die Hand nehme“, sagt er. „Leute wie Ben Webster und Coleman Hawkins und John Coltrane haben uns Musik hinterlassen, die gespielt werden muß. Und ich empfinde es als Teil meines Auftrags, diese Musik am Leben zu erhalten.“ Um die stilistischen Modetrends der Jazzszene — die Spielchen, ob etwas „hip“ oder „square“ klingt — kümmert er sich wenig, dafür nimmt er die Musik viel zu ernst. Der eigenbrötlerische Allround-Artist — er ist Komponist, Instrumentalist, Arrangeur und Bandleader in einer Person — ist sich seines Weges bewußt, der ihn weit ab von den eitlen Oberflächlichkeiten des Jazzbusiness führen wird.

Zum Leitstern avanciert die Frage, wie die Tradition ins Heute hinübergerettet werden kann. „Natürlich versuche ich nicht, die alte Musik Note für Note nachzuspielen“, verdeutlicht er seine Position. „Es ist die Stimmung, in die sie mich versetzt, und aus der heraus sie mich zu dem inspiriert, was ich selber spielen möchte.“ Für die Möglichkeiten, die in der Tradition verborgen liegen, will er die radikalen Free- Jazz-Bilderstürmer sensibilisieren, deren unhistorische Wegwerfmentalität er für einen Fehler hält. „Die Leute reden über Freiheit, aber der Blues ist noch immer eine der freiesten Sachen, die du spielen kannst.“

Roland Kirk erblickt 1936 in Columbus/Ohio das Licht der Welt, das für ihn allerdings schon nach zwei Jahren wieder verlöscht, als er völlig erblindet. Das Lauschen und gespannte Horchen wird von nun an sein wesentlicher Zugang zu den Dingen um ihn herum. Er schärft seine Hörorgane, um die Geräusche zu entschlüsseln, die vor dem Hintergrund der Stille aufsteigen, denn „die Welt des Ohrs ist“, wie der Philosoph Otto Friedrich Bollnow deutlich gemacht hat, „eine Welt der Geheimnisse“. In dieser akustischen Rätsel-Welt wächst Kirk auf. Da ihm die Wahrnehmung des Visuellen verwehrt ist, entwickelt er die Fähigkeit, mit den Ohren zu sehen — zum Beispiel die Sonne: „Ich habe mir jetzt in den Kopf gesetzt, den Klang der Sonne einzufangen“, erzählt er einmal. „Wenn die Sonne auf dich runterbrennt, ist das wie ein Summen. Die Sonne hat alle Töne in sich.“ Da er immer von Dunkelheit umgeben ist, entfaltet der Blinde die Gabe des eigentlichen Hörens. Kirk: „Zu den schönsten Augenblicken gehört es, spät in der Nacht oder frühmorgens vom Auftritt heimzukommen, und wenn du so richtig entspannt bist und es regnet, kannst du die Regentropfen hören, wie sie in Trauben zur Erde fallen, wie Akkorde, wie kleine Glocken, die aufeinander abgestimmt sind — das ist wie ein dauerndes Fließen und Schmelzen. Du brauchst auch keine Angst zu haben, wenn du den Donner hörst, weil du weißt, es ist wahrscheinlich Chick Webb oder irgendein anderer Schlagzeuger, der dort oben spielt.“

Die staatliche Blinden-Schule von Ohio wird für ihn die Ausgangsstation für seine Laufbahn als Musiker. Er beginnt schon früh Trompete zu spielen, mit zwölf Jahren dann Klarinette und Saxophon. Schulorchester und Amateurgruppen bieten Auftrittsmöglichkeiten. Als Teenager nennt er sich „Ronnie“ Kirk und macht mit Rhythm-and-Blues-Bands die Gegend unsicher. 1960 kommt er auf Initiative von Ramsey Lewis zu seinem ersten Plattenvertrag und wird ein Jahr später von Charles Mingus engagiert, zu dem er zeitlebens engen Kontakt hält. In eigenen Gruppen, aber auch in Zusammenarbeit mit Musikern ganz anderer Herkunft, formt er seine eigene Ausdrucksweise, die von Blues und Gospel durchtränkt ist. John Zorn, ebenfalls ein emsiger Fusionierer, sieht darin seine hervorstechendste Eigenschaft: „Alle großen Musiker mischen irgendetwas zusammen auf ihre persönliche Art, und sie kommen damit zu etwas, das alle Genres überschreitet.“

Kirk besitzt ein starkes Gefühl für die Musik des amerikanischen Südens, der seit jeher ein Schmelztiegel für die unterschiedlichsten Traditionen war. Besonders New Orleans hat es ihm angetan, wo um die Jahrhundertwende aus europäischen und afrikanischen Einflüssen der Jazz als Fusionsmusik entstand. Roland Kirk mag die entspannte, lebenspralle Atmosphäre der Stadt am Mississippi, er ist fasziniert von den okkulten Traditonen der Voodoo-Magie, er liebt das Essen und natürlich die „Sounds“. Er träumt davon, einmal mit einer richtigen „Marching Band“ durch die Straßen des „French Quarter“ zu ziehen. Aus diesem Grund rufen die Schmähungen des frühen Jazz durch viele seiner avantgardistischen schwarzen Musikerkollegen bei ihm nur Kopfschütteln hervor. Kirk weiß dagegen genau zu unterscheiden zwischen dem weißen Dixieland und der „Black Classical Music“, wie er den Jazz nennt, dessen Geheimnis er noch direkt den alten Meistern in der Preservation Hall und anderen Jazzkneipen ablauscht.

Sein Geschichtsinn sagt ihm, daß hier der musikalische Boden liegt, in dem die ganzen afro-amerikanischen Klänge wurzeln — die black root. „Ich sage ja nicht, daß man die immer gleichen Songs jahrein jahraus spielen soll und nicht versuchen soll, sie in Beziehung zu setzen mit der Zeit, in der wir leben. Ich denke, man kann jede Musik dieser Art nehmen und sie in die Gegenwart übertragen“, lautet sein Plädoyer für eine Auseinandersetzung mit der Traditon in innovativer Absicht. Was ihn an New Orleans fasziniert, ist die Tatsache, daß hier der Jazz noch als Straßenmusik lebendig ist, eine Kultur, aus der er selbst kommt. Jahrelang hat er in den Straßen seiner Heimatstadt musiziert, und später kann man ihn häufig an einer Ecke im Schwarzenghetto der Chicagoer South Side erleben, wo er sich — wegen ein paar Pennies — für die Passanten die Seele aus dem Leibe bläst. Diese Erfahrung arbeitet in ihm weiter. Er sucht auch später immer wieder die Herausforderung des Solospiels, das er in der Manier einer „Ein-Mann-Kapelle“ betreibt, mit großer Trommel, Rasseln an den Beinen und zwei oder drei Saxophonen in den Händen, die er gleichzeitig bedient. Die Technik des polyphonen Spiels auf mehreren Instrumenten hatte er in den fünfziger Jahren entwickelt, nachdem er in einem Trödelladen die dafür geeigneten Tröten entdeckte — zwei merkwürdige Vorläuferinstrumente des späteren Saxophons. Manzello heißt das eine: ein Sopraninstrument in Altsaxophonform. Stritch wird das andere genannt. Es ist ein Altsaxophon, das wie ein Sopransaxophon aussieht, aber mit einer riesigen Trichteröffnung versehen ist. Diese beiden Instrumente bedient Kirk mit der rechten Hand, während er mit der linken die Klappen seines Tenorsaxophons abgreift. „Als ich sechzehn war, hatte ich einen Traum“, erzählt er rückblickend. „Am nächsten Morgen ging ich zum Musikgeschäft und probierte alle Rohrblatt-Instrumente aus, die ich finden konnte. Keines hatte den Sound, den ich in meinem Traum gehört hatte. Als ich es schon fast aufgeben wollte, nahmen sie mich in den Keller, um mir zu zeigen, was sie ,Abfall‘ nannten. Und da fand ich, was ich suchte.“

Rahsaan Roland Kirk setzt bei seinen Auftritten normalerweise ein Arsenal von mehr als fünfzig Instrumenten ein, was Erinnerungen an die alten Folk-Musikanten wachruft, die mit dem Bündel ihrer Habseligkeiten durch die Welt zogen. Sein riesiges Instrumentarium umfaßt als Grundstock eine Reihe mehr oder weniger konventioneller Saxophone, Klarinetten und Flöten. Diese werden von ethnischen Instrumenten ergänzt, wie einem afrikanischen Daumenklavier oder einer Nasenflöte. Dazu kommt eine Anzahl obskurer Klangerzeuger, von denen er die meisten selbst erfunden hat, wie die „black mystery pipes“ und die „black puzzle flute“ oder den bizarren Geräuschtöner, den er „thundersheet“ getauft

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hat und bei dem es sich um ein schepperndes Blech handelt. Mit diesem vielfältigen Bestand baut er seine Auftritte zu totalen Musikperformances aus. Wenn er zu einem unbegleiteten Solo ansetzt, spielt er ohne Unterbrechung und ohne abzusetzen mit Hilfe einer phänomenalen Zirkulationsatmung (Einatmen mit der Nase, Ausatmen durch den Mund) problemlos eine Viertelstunde lang auf mehreren Saxophonen — in Ausnahmefällen sogar über zwei Stunden. Auf der Bühne steht dann ein Wahnsinniger, der sich total verausgabt und sich in immer neue Umlaufbahnen katapultiert.

Es entsteht eine Solomusik von solch ungeheurer Energie (festgehalten auf einer Einspielung aus dem Jahre 1971 mit dem Titel Natural Black Inventions — Root Strata), daß selbst eine so abgebrühte Natur wie Avantgarde-Musiker John Zorn ins Schwärmen gerät: „Eine unglaubliche Platte! Gott weiß, was das für eine Musik ist und das macht sie ja gerade so phantastisch.“ Bei einigen Kritikern bringt ihm diese spektakuläre Auftrittsweise den Ruf ein, eher ein Zirkusmusiker denn ein ernsthafter Künstler zu sein. Man würde den widerborstigen Quertreiber gerne ins Kuriositätenkabinett der Jazzhistorie abschieben: ein weiterer schwarzer Unterhaltungskasper, der sich vor den Weißen in unterwürfiger Onkel-Tom-Manier zum Hanswurst macht. Eine Einschätzung, die ihn schmerzt. „Nach all der Zeit als Clown abgetan zu werden, ist sehr ärgerlich“, meint er verbittert, „ich will mit den Leuten kommunizieren, aber nicht mit Tom und nicht mit Mr. Show Biz!“

Diese Halung bringt ihn 1970 an die Spitze einer Initiative mit Namen „Jazz and People Movement“, die mit spektakulären Aktionen wie „Go-Ins“ und Pfeif-Happenings in TV-Talkshows gegen die „Weißwäscherei“ der amerikanischen Medien protestiert. Man will die Diskriminierung schwarzer Kunst offenlegen und eine stärkere Berücksichtigung afro-amerikanischer Musik im Fernsehen erreichen — und beißt auf Granit.

Fünf Jahre später, im Alter von 39 Jahren, erleidet Roland Kirk einen Schlaganfall, der ihn halbseitig lähmt. Obwohl ihm die Ärzte dringend davon abraten, nimmt er seine Konzerttätigkeit bald wieder auf. Mit einem Spezialsaxophon, auf dem es möglich ist, nur mit der linken Hand zu spielen, macht der Besessene weiter. Er tritt 1976 noch einmal in Europa auf, zusammen mit der Bluessängerin Odetta und als Gastsolist des Orchesters von Gil Evans. Ein Jahr später, im Dezember 1977, ist er tot, gestorben nach einem Konzert in Bloomington/Indiana im Bus der Band.

Obwohl sein Name heute nur noch Insidern bekannt ist, übt Kirk weiterhin einen starken Einfluß aus. In der Spielweise vieler Jazzmusiker ist er präsent, aber auch ein Rockmusiker wie Ian Anderson (Jethro Tull) würde ohne ihn anders Flöte blasen. Weil Blinde oft Seher sind, hat Roland Kirk das auf seine Art vorausgesehen. Im Scherz meinte er einmal, daß er im Falle seiner Reinkarnation wohl als musikalische Note wiederkommen würde.

Platten: Rahsaan Roland Kirk: The Man Who Cried Fire . Night Records/Virgin

Roland Kirk: Rahsaan . The Complete Mercury Recordings. verve/ Polygram (elf CDs)

Gesamtdiskographie: Michael Frohne: Bright Moments. Roland Kirk 1956-77 . Jazz Realities, Wilhelmstraße 32, 7800 Freiburg

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