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Algerien geht in die zweite Runde

■ Zweiter Wahlgang für Parlamentswahlen am 16. Januar/ Einzelheiten über Wahlfälschungen/ Oppositionspolitiker ruft zu Bildung einer demokratischen Sammlungsbewegung auf

Algier (afp) — In Algerien hat am Samstag der Wahlkampf für die zweite Runde der Parlamentswahlen begonnen, obwohl die Abhaltung der Wahl nach 341 Anfechtungen des ersten Wahlgangs fraglich geworden ist. Neben der „Islamischen Heilsfront“ (FIS), die aus der ersten Runde als Siegerin hervorging, sind noch die „Nationale Befreiungsfront“ (FLN) und die „Front Sozialistischer Kräfte“ (FFS) im Rennen.

Der Verfassungsrat hatte am Freitag bekannt gegeben, daß 341 Einwände gegen die Wahlergebnisse in 145 Wahlkreisen erhoben wurden. Die meisten wurden von der ehemaligen Einheitspartei FLN eingebracht und beziehen sich auf Wahlkreise in denen die FIS gesiegt hat. Die meisten Anfechtungen beziehen sich Presseangaben zufolge auf Wahlbetrug durch die sogenannte Paternostertechnik, um die Stimmen der Analphabeten für die FIS zu gewinnen. Das bedeutet, das ein Wähler einen leeren Briefumschlag in die Urne wirft, seinen Wahlzettel herausschmuggelt. Dieser wird dann für die FIS ausgefüllt und einem Analphabeten mitgeben, der ihn dann in die Urne wirft und wiederum einen leeren Wahlzettel mit hinausbringt. Eine andere Möglichkeit: Verschleierte Frauen, die lesen und schreiben können, für Analphabetinnen wählen gehen zu lassen. Die algerische Presse berichtete auch, daß die „Heilsfront“ offen Druck auf Wähler ausgeübt habe. Manche Wähler hätten sich beschwert, daß sie nicht in den Wählerlisten stünden. Der Verfassungsrat muß die Beschwerden bis Ende nächster Woche prüfen.

Das Mitglied der „Majdlis Echoura“, der obersten Instanz der FIS, Rabah Kebir, erklärte am Samstag in der pro-saudischen Zeitung 'El Hajat‘, seine Partei werde auf die Bildung eines moslemischen Staates nach dem Vorbild Irans, Saudi-Arabiens und Sudans hinwirken. Dazu gehöre die Änderung der Gesetze, die nicht der Scharia, dem islamischen Recht, entsprächen. Wenn nach einem Sieg der „Heilsfront“ kein Einvernehmen mit Präsident Chadli Benjedid erzielt werden könne, werde die Partei die Neuwahl des Staatsoberhaupts fordern.

Zur Unterstützung des Fundamentalismus kündigte die „Bewegung für die islamische Wiedergeburt“ von Abdellah Djaballah am Freitag die Bildung einer Sammlungsbewegung an. Die algerischen Moslems sollten sich denen widersetzen, die dem islamischen Projekt feindlich gegenüberstehen. Der Wille des Volkes müsse respektiert werden. Die Partei hatte bei den Wahlen am 26. Dezember mit 150.000 Stimmen keinen Parlamentssitz errungen.

Zur Bildung einer Sammlungsbewegung rief auch der ehemalige stellvertretende Vorsitzende der algerischen „Vereinigung für die Kultur und die Demokratie“ (RCD), Mokran Ait Larbi auf. In einer am Samstag veröffentlichten Erklärung appelliert Ait Larbi an die Mitglieder der demokratischen Parteien, Druck auf ihre Führungen auszuüben, um eine demokratische Sammelbewegung mit einer vereinten Leitung zustandezubringen, die „den republikanischen Werten, der Verfassung, der Mehrparteiendemokratie, den Grund- und Menschenrechten, der Pressefreiheit und dem sozialen Frieden“ verpflichtet sein sollte. Der von manchen Parteien geforderten Boykott der zweiten Runde am 16. Januar lehnt der RCD-Politiker mit der Begründung ab, daß dann der Ausnahmezustand verhängt und ein Staatsstreich des Militärs oder ein Bürgerkrieg stattfinden werde.

Mehrere Parteien, Gewerkschaften und Unternehmerverbände hatten unlängst dazu aufgerufen, den zweiten Wahlgang auszusetzen. Sie befürchten nach einem Sieg der fundamentalistischen „Islamischen Heilsfront“ (FIS) die Errichtung eines totalitären islamischen Staates. Nach den amtlichen Ergebnissen hat die FIS am 26. Dezember des vergangenen Jahres bei den ersten demokratischen Wahlen in Algerien seit der Unabhängigkeit 1962 insgesamt 188 Parlamentssitze erhalten, die bisherige Regierungspartei „Nationale Befreiungsfront“ (FLN) nur 15. Der RCD-Generalsekretär Said Sadi hatte am Mittwoch zur Verhinderung des zweiten Wahlgangs durch Streiks und Straßendemonstrationen aufgerufen.

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