„Da habe ich meine Kraft gelassen“

Edith Scheffler, einst „Fürsorgerin“, kümmert sich heute um Flüchtlinge in der Zentralen Anlaufstelle von Brandenburg/ Flüchtlingsalltag zwischen Kinderbetreuung und Ämterproblemen  ■ Von Ulrike Wojcieszak

Eisenhüttenstadt (taz) — Edith Scheffler eilt den Weg entlang zwischen den neuen weißen Wohncontainern, die dicht aneinandergedrängt hinter einer ehemaligen zweistöckigen Polizeikaserne stehen. Es ist 7.52 Uhr, und Edith Scheffler, eine gertenschlanke Frau von 55 Jahren, beginnt einen neuen Arbeitstag als Sozialarbeiterin im Familienhaus des Flüchtlingsheims in Eisenhüttenstadt. Auf dem Flur schlägt ihr der scharfe Geruch abgestandener Luft und menschlichen Schweißes entgegen. Sie schließt ihr Büro auf.

In der Zentralen Anlaufstelle für Asylbewerber in Eisenhüttenstadt müssen sich alle Flüchtlinge registrieren lassen, die nach Brandenburg kommen. Noch schiebt eine nicht unbedeutende Zahl von Stahlarbeitern in Eisenhüttenstadt ihre Schicht — das zeigen die qualmenden Schornsteine. Die Stadt, einst von Hitler erbaut, ist eine Aneinanderreihung von Arbeiterwohnghettos.

Im Schnitt halten sich in der Zentralen Anlaufstelle 750 Ausländer aus mehr als 40 Ländern auf. In den Sommermonaten waren es zeitweise mehr als 1.000 Menschen. Heute sind es auf die Zahl genau 667, davon 150 Kinder.

Noch ehe das Glucksen der Kaffeemaschine verstummt, wird Frau Scheffler in den ersten Stock gerufen, um bei einer „ihrer Familien“ nach dem Rechten zu sehen. Sie klopft an die Tür von Zimmer 210, und ohne eine Antwort abzuwarten, tritt sie ein. Drei junge Paare aus Rumänien, alle unter 20 Jahren, sitzen mit ihren Säuglingen auf den Bettkanten eiserner Militärbetten. Graffitis an den schmutzigweißen Wänden erzählen von der Langeweile der Gäste in diesem Durchgangsdomizil.

Aufgeregt streckt eine der jungen Mütter „Frau Edith“, wie sie hier meist genannt wird, ihr viel zu kleines, hungriges Baby entgegen. Eine gemeinsame Sprache gibt es nicht, doch Edith Scheffler, die selbst sieben Enkelkinder hat, erkennt das Problem auf der Stelle. Sie nimmt das Kind auf den Arm, um es bis zum Füttern zu beruhigen. „Ich bin ganz hin- und hergerissen von der Art, wie diese schmuddligen jungen Mütter sich um ihre Kinder kümmern, wie sie sie in den Schlaf wiegen und sie dabei zwischen die Beine klemmen“, sagt die Sozialarbeiterin. Sie legt sich auf ein Bett, streckt die Beine in die Luft und klemmt sich einen imaginären Säugling zwischen die Knie, als wolle sie ihn schaukeln. „Die Flüchtlinge scheinen so verwahrlost, doch im Kontakt zu ihren Kindern machen sie uns allemal was vor.“ Edith Scheffler weiß, wovon sie spricht, denn in den Jahren vor der Wende arbeitete sie als verantwortliche Fürsorgerin beim Rat der Stadt für den Bereich kinderreiche Familien. „Da habe ich meine ganze Kraft gelassen“, sagt sie, „doch jetzt kümmert sich der Staat um diese Menschen nicht mehr. Ich möchte weinen, wenn ich daran denke, wie wir alle betrogen worden sind.“ Edith Scheffler wird jetzt in den Vorruhestand gehen. Die jahrelangen Belastungen haben sie erschöpft.

Die heute 55jährige war mit 18 Jahren in die Kommunistische Partei eingetreten, weil — wie sie sagt — Briefe aus Konzentrationslagern sie tief beeindruckt hatten. „Schon in meiner Jugend habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, etwas für die Schwächeren der Gesellschaft zu tun. Hilfsbedürftige Menschen, wie jetzt zum Beispiel die Flüchtlinge, die hierher kommen, weil sie in ihrer Heimat nicht bleiben konnten, brauchen unsere Zuwendung und Unterstützung. Doch mit der Wende hat sich in diesem Land vieles verändert. Der Konsumrausch hat um sich gegriffen, und ein neues schickes Auto ist jetzt wichtiger als zwischenmenschliche Kontakte. Die deutsche Wiedervereinigung hat uns viel Schlechtes gebracht.“

Inzwischen scheint es in der zweiten Etage ein neues Problem zu geben. Lautes Stimmengewirr drängt von der Küche her. Edith Scheffler schnappt ihr „Walkie-talkie“. Zwei junge Roma-Frauen in langen weiten Röcken, heimlich zusammengeschneidert aus den hauseigenen Tischdecken, die bunten Kopftücher hastig über die zerzausten schwarzen Haare geschlagen, kommen Edith Scheffler mit ihren Papieren in den Händen entgegen. „Was macht ihr denn für ein Theater, meine Süßen, seid wohl wieder bei was ertappt worden!“, ruft diese. Aus den Aufenthaltspapieren der Frauen geht eindeutig hervor, daß ihre Aufenthaltsfrist schon vor Wochen abgelaufen ist. Mit ein paar beruhigenden Worten schafft Edith Scheffler es, die Aufregung zu beschwichtigen, übergibt den Fall einem der Sicherheitsbeamten, der gerade die Treppe heraufkommt, und verschwindet wieder in ihrem Büro. Dort ist der Kaffee inzwischen kalt geworden.

Mittlerweile geht die Frühstückszeit im Heim zu Ende und überläßt die Flüchtlinge wieder der Monotonie des Heimalltags. Die ersten haben sich auf ein Schwätzchen im Hof versammelt. Ein paar junge Männer spielen Fußball, kleine Kinder turnen um die Beine der Erwachsenen. Ein grauhaariger Palästinenser in den Fünfzigern steht abseits des Geschehens, die Ballspieler offensichtlich um ihre Jugend beneidend. Der einstige Englischprofessor mußte mit seiner Frau und seinen Kindern seine Wahlheimat Kuwait verlassen. „Man hat uns alles genommen“, sagt er, „der Golfkrieg hat uns ins Unglück gestürzt. Nun stehen wir da, ohne Hoffnung und mit einer unsicheren Zukunft, unter Menschen, die uns hassen und uns nicht haben wollen.“ Ein Schicksal unter vielen.

Edith Scheffler drückt sich an die Wand, um Platz zu machen für einen der ungefähr 30 Asylantragsteller, die heute auf „Transfer“ gehen. Wer auf „Transfer“ geht, muß in eines der umliegenden „Verteilungslager“, um das Antragsverfahren abzuwarten. Ein Rumäne trägt einen großen, aus Decken zusammengeschneiderten Sack auf den Schultern. Darin hat er alles zusammengepackt, was er besitzt. „Gute Reise und viel Glück“, ruft Edith Scheffler ihm noch hinterher. Der Mann dreht sich nicht um, weil er die fremde Sprache nicht versteht. „Jeder, der von hier weggeht, nimmt auch immer ein Stückchen von uns mit“, sagt Edith Scheffler und räumt dabei einen Stapel Papier zusammen, der sich inzwischen auf ihrem Schreibtisch angesammelt hat.