: Weiadawaber im Bilderbuch
Rotkäppchen und der Regiewolf — eine Uraufführung in Frankfurt ■ Von Arnd Wesemann
Wer ist Hollmann? Er liebt die Gebärden, je größer, desto besser. Er mag die Farben, je bunter, desto lieber. Er ist ein Spielkind, dem es nicht so genau darauf ankommt, wie genau er inszeniert. Man erfährt trotzdem, was gemeint ist. Er liebt das Naheliegende. Bei Hollmann bekommt man das Gemeinte direkt aufs Auge gesetzt. Das Banalste muß nur groß genug gemacht werden. Und die Schauspieler nicht gar so klein. Er bläst sie auf, statt sie unter die Lupe zu nehmen.
Hollmann ist ein barocker Theatermann, durch und durch. Sprache heißt Deklamation. Die Bühne als Budenzauber, gerne auch teuer. Am teuersten sind ihm aber die Gebärden. Alles muß verzückt sein, ein vorgespielter Affekt — Stummfilmgesten, Pathos, immer auf die nächstliegende Bedeutung zurechtgestutzt. Mit jeder Hollmann-Geste wird der Schauspieler zur Übertreibung, zur Karikatur. Würde Hollmann ein Rührstück inszenieren, käme ein Tränenmeer heraus. Und die Schauspieler schnieften noch beim Applaus in die Laken — ohne selbst gerührt zu haben.
Hollmann ist ein tapferer Theaterfürst. Stets gibt er vor, etwas zu wagen. Heraus kommt oft nur ein geherztes Scheitern mit der tapferen Miene des letzten Aufrechten, Wagemutigen und Draufgängers. Auch wenn man als Publikum wieder nichts als nur durchgehalten hat. In seinem bunten Theater spielte vier Stunden lang das Märchen von Rotkäppchen und dem Wolf. Gestreckt auf die Länge eines Sommernachtstraums, inszeniert, als ehre er eine antike Tragödie, war es nur eine Art Grimm, mit lausiger Klischee- Psychoanalyse.
Der Autor Martin Mosebach hat das Märchen in anthroposophisch anmutende Knittelverse gebracht — tiefsinnig, kein Kinderstück; den Tiefsinn aber so mit Lack überpinselt, als läse man Weiadawaber im Bilderbuch. Immerhin, fast wäre es ein kleiner Goethe geworden. Rotkäppchen, sehr lieb, steht in Engelshaaren und deklamiert: „Hier habe ich Frieden. Hier kann ich kämmen.“
Man sitzt auf Drehstühlen im ehemaligen Straßenbahndepot (Frankfurts schon aufgegebene Ausstellungshalle für große Regisseure wie Peter Brook und Einar Schleef), mit denen es sich gemütlich kreiseln läßt. Mitten in der Arena, und rundum an den Seiten gehen in allen Regenbogenfarben Szenen los, die nimmermüd noch den kleinsten dem Rotkäppchen-Märchen hinzudenkbaren Pups abklappern — so, daß es beim artigen Weiterkreiseln auf dem Drehstuhl bleibt.
Hollmanns Spielzimmer erinnert an ein großes Fort aus Holz. Der Wald, in den Rotkäppchen geht, ist aber nur ein Philosophenwald, aus dem permanent gute Ratschläge herausmurmeln. Der Wald befindet sich an der Querseite der Bühne. Er besteht aus ein ein paar Fichten, in deren Stämmen aufrecht Mädchen stehen und „Fichte“ spielen, sehr ausdauernd und sehr schief. Im Wald wachsen Fliegenpilze, von ein paar traurigen Männern gespielt, die alle eine Riesentomate auf dem Kopf tragen und glauben, Rotkäppchen sei ihre Fürstin.
Der graue Wolf, ein Wolfsmann oder Werwolf, lebt rechts an der Längsseite der grauen Bühne, legt die Karten für sein Schicksal und nennt vier wilde Wolfskinder und eine emanzipierte Frau sein eigen. Dort stehen Totenschädel und unter ihnen ein paar Schauspieler, die gelgentlich ihre Grimassen vortragen.
Gegenüber wohnen der Jäger in Jägersgrün und seine Frau Mama in einem grünen Haus vor lauter absurden Trophäen. An der Stirnseite steht das Haus von Rotkäppchens Mutter, wo niemand rausschaut; daür ist es im Finale das Haus der Großmutter, aus dem fast das ganze Ensemble rausschaut. Aus dem Bettkasten stellen zwei Akteure die Pantoffeln der Großmutter dar, hinterm Sessel spielt eine Aktrice einen Sessel. Das ganze Mobiliar lebt, als sei man bei Lewis Carroll und Alice im Wunderland. Die Dinge leben — nur das Stück, das gleich aus ist, lebt noch immer nicht.
Es kommt alles immer nur beinahe in Fahrt. Der Werwolf, Klaus Bauer, frißt die Großmutter und das Rotkäppchen, die vom engelsblonden Jägersbub heil wieder herausgeschnitten werden, als seien sie die sieben Geißlein. Hans Falar spielt die Großmutter in entschlossener Travestie, Ingeborg Engelmann die Mutter in selten gesehener Resolutheit. Dem Jägersbursch, Frank Michael Köbe, fehlt bei all seinem Dünkelhaften der Entschluß, seine stramme Jägerslust ganz zur Karikatur zu treiben. Und das Rotkäppchen, Annemarie Knaak, wirkt so, als nähme sie ihr verzückt-übertriebenes Gejauchze so ernst, daß sie vor lauter Übertreibung ganz erblaßt durch Hollmanns Bilderbuch laufen müßte. Hollmann, scheint's, liebt die Banalität seiner Gesten und ihre Übertreibung nicht genug, sondern bevorzugt diesmal eine gehörig banale Lust an nicht enden wollenden Knittelversen, die wie Limonade schmecken.
Martin Mosebach: Rotkäppchen und der Wolf , Regie: Klaus Hollmann. Bühne: Rosalie. Musik: Jens-Peter Ostendorf. Mit Carmen-Renate Köper, Ingeborg Engelmann, Michael Köbe, Hans Falar u.a., Bockenheimer Depot, Frankfurt. Nächste Auführungen: 8./9., 11.-13., 15., 19./20., 22., 25/26., 29. Januar.
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