: Mutter aus »liebevoller Sorge« getötet
■ 24jähriger Tankwart steht wegen Mordes seiner Mutter vor Gericht/ Angeklagter beruft sich darauf, die Trunksucht seiner Mutter nicht mehr ertragen zu haben/ Verantwortung vom Vater übertragen
Moabit. Die dicken roten Narben auf dem rechten Handrücken des 23jährigen Christian W. beweisen die Qualen, die er in den letzten Monaten durchgemacht haben muß. Nach seiner Festnahme im vergangenen Juli traute er sich nicht einzuschlafen, weil in seinen Träumen jedesmal die tote Mutter auftauchte. Um sich selbst zu bestrafen, drückte sich Christian W. brennende Zigaretten auf dem Handrücken aus. Doch die Alpträume blieben. Erst als er in der Psychiatrisch-Neurologischen Abteilung im Tegeler Knast unter Tabletten gesetzt wurde, konnte er wieder richtig schlafen. Doch die Ruhe währte nur bis Neujahr. An diesem Tag erfuhr er, daß in der Nachbarzelle ein befreundeter Mitgefangener bei einem Selbstmordversuch verblutet war.
Christan W. muß sich seit gestern vor der 29. Strafkammer des Landgerichts wegen des Vorwurfs verantworten, am 2. Juli 1991 seine Mutter ermordet zu haben. Der schmale junge Mann legte ein umfassendes Geständnis ab. Er habe seine Mutter Albertine W. sehr geliebt und einfach nicht mehr ertragen können, daß die 56jährige Frau ständig betrunken gewesen sei, begründete er die Tat. Christan W., der keine Berufausbildung hat und sich vor seiner Festnahme als Tankwart verdingt hatte, ist das jüngste von elf Kindern. Fünf der Geschwister leben noch, die übrigen waren gleich nach der Geburt gestorben, und ein älterer Bruder hatte sich selbst umgebracht. Der Vater, ein »strenger, aber guter Mann«, der als Revisor bei der Firma Siemens beschäftig war, starb im Oktober 1986. »Vor seinem Tod«, so Christian W. gestern, »hat er zu mir gesagt, daß ich immer auf Mutter aufpassen soll.«
Wenige Monate, nachdem der Vater gestorben sei, habe die Mutter heftig zu trinken begonnen, berichtete der Angeklagte, der nach eigenen Angaben auch selber ausgiebig dem Alkohol zugetan gewesen sei, sich dabei aber mehr unter der Kontrolle gehabt zu haben meinte als die Mutter. Er habe sie oft sturzbetrunken aus ihrer Stammkneipe abgeholt oder auf der Straße aufgelesen und nach Hause in ihre Einzimmerwohnung am Zabel-Krüger-Damm in Reinickendorf gebracht. In diese Wohnung, in die Christian W. im vergangenen Mai auch eingezogen war und dort allein mit der Mutter lebte, kam es in der Nacht des 2. Juli zu der Tat. Der Sohn hatte die Mutter, wie er berichtete, wieder einmal aus der Kneipe abgeholt. Nachdem sie zuerst nicht mitgehen wollte, so Christian W., sei sie ihm schließlich aber doch gefolgt.
Zu Hause habe sich die Mutter sofort schlafen gelegt. Er selbst, so der Angeklagte, habe eine Musikcassette von Eros Ramazotti aufgelegt. »Ich habe gedacht, daß sie sich nur noch rumquält.« Als er seine Mutter schlafen hörte, habe er sich auf ihr Bett gesetzt, ihr einen Kuß gegeben und dann ihren Mund und ihre Nase zugehalten. Auf Nachfrage des Vorsitzenden Richters Hüller bestätigte er, daß seine Mutter sich gewehrt habe. »Ich glaube, ich habe gesagt, es ist besser so, und konnte nicht mehr loslassen«, sagte der Angeklagte mit belegter Stimme. Bei der Befragung kam heraus, daß es Christian W. überhaupt nicht gefallen hatte, daß seine Mutter in der Kneipe Männer- Bekanntschaften machte. »Die Männer waren immer so schleimig, ich habe immer an Vater gedacht«, sagte er. Seine Schwester erklärte gestern als Zeugin vor Gericht, daß die Mutter keine sexuelle Beziehung zu anderen Männern eingegangen sei, der Bruder aber große Angst gehabt habe, die Mutter zu verlieren. Die Serviererin der Kneipe berichtete, daß die 56jährige Stammkundin gern getanzt habe und ihr die Gängelei durch den Sohn zunehmend auf die Nerven gegangen sei. »Ich hatte das Gefühl, sie hat Angst vor ihm.« Der psychiatrische Sachverständige attestierte dem Angeklagten eine verminderte Schuldfähigkeit wegen Trunkenheit bei der Tat und beantragte, ihn zu einer Entziehungstherapie in eine geschlossene Anstalt einzuweisen. Gegenüber der taz vermutete der Gutachter, daß der Sohn die Mutter aus »liebvoller Sorge getötet« habe. Die Beziehung zwischen Mutter und Sohn sei aber auf jeden Fall nicht von sexuellen Gefühlen bestimmt gewesen. Der Prozeß wird am 20. Januar fortgesetzt. plu
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