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Das „How“ des Jago

■ Zu Patrick Roths Christusnovelle „Riverside“

Der seit 1975 in Los Angeles lebende deutsche Hörspielautor, Dramatiker, Drehbuchautor und Regisseur Patrick Roth redet, wie er schreibt: bildgewaltig. Sein Sprechen ist gespickt mit außergewöhnlichen Sätzen. Das ist kein Dahergerede, sondern bereits — scheinbar mühelos formulierte — Literatur. In seinem neuesten Buch, der Christusnovelle Riverside, wird so gut wie nichts beschrieben, sondern nur gesprochen. Auf knapp 93 Seiten vermittelt einem das Gespräch der drei Männer die Geschichte des Buches jedoch so lebhaft, daß man nach der Lektüre glaubt, ein dreistündiges Breitwandepos von Cecil B. de Mille gesehen zu haben.

Im Jahre 28 erkrankt der einfache, unbescholtene Diastasimos an Lepra. Als Aussätziger aus der menschlichen Gesellschaft verbannt, vegetiert er neun Jahre lang in einer Höhle im judäischen Wüstengebirge vor sich hin. Im Jahre 37 suchen ihn dort zwei Männer, Tabeas und Andreas, auf. Die beiden wollen Zeitzeugen von Jesus Christus befragen, um diese Dokumente für die Nachwelt in schriftlicher Form überliefern zu können. Kurz vor seinem Tod war Jesus in Begleitung der beiden Jünger Judas und Johannes bei Diastasimos in der Höhle gewesen. Der Messias konnte den Aussätzigen damals scheinbar nicht heilen. Von da ab war Diastasimos weithin bekannt als Synonym für einen „beispiellosen Unglauben“ und grenzenlose Hoffnungslosigkeit.

Der Besuch beim Alten wird zum Lehrstück für die beiden Jungen. „Zeit ist es nicht nur für euren Besuch, sagte die Stimme, sondern: zu vertauschen Gelübde und Lehre. Und euch, die ihr kommt, mir das eine abzuringen, will ich das andere gern verpassen“. Die beiden „Sammler“, und darin sind sie eine sehr neuzeitliche Erscheinung, möchten Erfahrung aus zweiter Hand abfragen und an solche, die Erfahrung aus zweiter Hand brauchen, weitergeben. Diastasismos ist jedoch nicht bereit, dabei mitzuspielen. „Denn warum soll ich auf die Seite von Schreibern gehen, die ihre Predigt nicht im eigen Fleisch und Blut geschrieben finden, sondern in Tintenstrichen auf Papier? Gebt mir den Mensch zu lesen, wenn ihr Menschen lesen wollt.“ Schon in seinem ersten Buch, Die Wachsamen, das drei Monodramen versammelt, hatte Roth drei Männer in Extremsituationen über für sie wesentliche Fragen des Lebens nachdenken lassen. Kelly sitzt in der Gaskammer und wartet auf seine Hinrichtung. Paul sitzt in einer isolierten Kabine der Nuklear- Hauptwachzentrale, den Finger permanent am „Metallzacken“. John schließlich steht in seinem Swimmingpool und beobachtet das Erdbebeninferno, das Los Angeles heimgesucht hat. Allen drei Protagonisten ist gemeinsam, daß sie ihre (scheinbar) letzten Gedanken Frauen widmen und das, wonach sie sich sehnen, nicht real ist. Wachsam träumen sie sich zurück in die glücklichsten Momente ihres Lebens.

Immerhin versuchen sich die beiden Wachsamen aus ihrem Unglück mittels Erinnerung an das selbst erfahrene Glück zu retten. Die Zukunft kann man, davon ist Roth überzeugt, nur „in der Vergangenheit finden, indem du das Alte, soweit es dich angeht, durcharbeitest, zu deiner Erfahrung machst“. Andreas und Tabeas müssen das erst begreifen. „Jetzt beschwert ihr euch, daß ich euch nicht von Anfang an das Maul gestopft. Erst muß verwirrt sein, verworren sich im Altgelernten nicht mehr kennen, der etwas finden will. Denn hat euer Herr nicht gesagt: ,Lasset den, der sucht, nicht aufhören zu suchen: als bis er findet. Und wenn er findet, verstört wird er sein. Wenn aber verstört: taucht's in ihm auf staunend: wird herrschen über All?‘“Ein Aids-Kranker von heute dürfte sich ähnlich fühlen wie der aussätzige Diastasimos, dem durch das überlegene Getue der Gesunden ein Menschsein abgesprochen wird. Mit seinem poetologischen Programm aber steht Roth außerhalb aller derzeitigen Moden und Trends. Die Wachsamen ist in der Form des Zeilensprungs geschrieben. Inspiriert hat Roth dabei das „erste deutsche Szenaristen-Genie“ Carl Mayer, der in den zwanziger Jahren unter anderem Drehbücher für Murnau geschrieben hat. Die staccato gehaltenen Kurzsätze gleichen Kameraeinstellungen und -bewegungen. Die Monodramen erhalten so einerseits eine Atemlosigkeit und entwickeln, zumal wenn man sie laut liest, eine Sogwirkung, andererseits kann man jede Zeile für sich lesen, verweilen und über das Bild meditieren, also die Bilder nach-denken oder, wie es Roth selbst formuliert: „ihre Gedankenfolge nach-zu-sehen“.

In seiner Erzähltechnik hat sich Roth streng einem Diktum von Orson Welles unterworfen, das besagt, daß die Erzählperspektive nicht verändert werden darf. „Bei Welles sieht man immer alles nur durch ein Objektiv“, sagt Roth und erklärt der Videoclipästhetik und den Spielereien vieler junger Gegenwartsautoren eine klare Absage. Geradezu Vorbildcharakter für sein Schreiben hat Welles' Film Othello. In einem Interview mit der Zeitschrift 'Konzepte‘ hat Roth das an einem Beispiel verdeutlicht. „Das ,How?‘ des Jago, das sagen will: ,Wie kann ich Othello zu Fall bringen?‘, setzt Welles als Flüsterton über den long shot (die Totale) in der Kathedrale, an deren fernem Altar Othello gerade mit Desdemona getraut wird, und stellt so erst den ungeheuren Kontrast zur Raumtiefe der Kathedrale her! Wie hier Bild und Ton völlig irreal zusammenarbeiten, um die gewollte Emotion zu erzeugen: die Ungeheuerlichkeit der Frage, dieses ,How?‘ soll über die Raumtiefe erfahrbar gemacht werden. Das hat für mich nichts mehr mit Realität zu tun, aber alles mit Geschichten-Erzählen.“

Voll auf die Bedürfnisse unserer Zeit zugeschnitten sind allerdings die Längen seiner Texte, zumindest in seinen ersten beiden Büchern. Sie sind alle so kurz, daß man sie probemlos in einem Zug lesen kann und damit Edgar Allen Poes Forderung nach der „Kontinuität der Erfahrung“ erfüllen. Eine Geschichte, die man in maximal zwei Stunden lesen kann, erlaubt den Aufbau einer Emotion und kann somit zu einer, wenn die Geschichte etwas taugt, erlebten Erfahrung werden.

Wolfgang Rückert

Patrick Roth: Die Wachsamen , 160 Seiten, 10DM, und Riverside , 94 Seiten, 25DM, beide Suhrkamp.

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