: Wenn sich die Marktlücke öffnet
Von den Grenzen der Pressefreiheit/ Der liebe Gott: Journalist oder Verleger? ■ Von Otto Köhler
[...] Im Ernstfall — das wissen wir aus der Geschichte — hört die Pressefreiheit auf. Aber das ist vielleicht meine subjektive Sicht der Dinge. Versuchen wir eine objektive Bestimmung des Verhältnisses von Pressefreiheit und Massenmedien. Wie sind die Massenmedien entstanden? Der große Soziologe Schelsky sagt: „Die Produktionshöhe der modernen Massenindustrien stellt an den Menschen einen hohen Konsumanspruch, ja legt ihm geradezu eine Konsumpflicht auf, wenn dies auch mit der ,sanften Gewalt‘ der dauernden Wunscherzeugung und des unvermeidlichen Bereitstellens der Erfüllungen geschieht. So tritt der Mensch heute in seiner Freizeit geradezu unter eine der industriellen Arbeitsdisziplin durchaus verwandte industriegesellschaftliche Zwangsgesetzlichkeit: die des gesteigerten Konsums an materieller und geistiger Massenproduktion und sonstigen offerierten Dienstleistungen.“
Diese erwähnte „Freizeitarbeit“, deren Gestaltung „nicht im freien Belieben des einzelnen“ steht, nennen wir also heute unter den zwangsgesetzlichen Bedingungen der modernen Industriegesellschaft „Konsumpflicht“. Da aber zahlreiche Güter produziert werden, deren Nutzen den präsumptiven Konsumenten nicht unmittelbar einleuchtet, bedarf es zur dauernden Wunscherzeugung der Massenmedien. Unter Medien verstehen wir bedruckte oder elektronische Träger der Informationsvermittlung. Im allgemeinen Sprachgebrauch werden diese Medien innerhalb der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der modernen Indstriegesellschaft häufig mit Begriffen wie Meinungs- oder Informationsfreiheit in Zusammenhang gebracht. Doch gerade bei den Massenmedien ist diese Anwendung zumindest kurzschlüssig. Gedruckte Massenmedien wie Publikumszeitschriften entstehen heute unter ökonomischen Voraussetzungen nicht mehr als Ausfluß irgendeiner beliebigen Meinungsfreiheit. [...] Eine neue Publikumszeitschrift entsteht in einem geordneten Druckereibetrieb regelmäßig dann, wenn sich eine Marktlücke öffnet, das heißt wenn eine Zielgruppe entdeckt wird, die von der Industrie noch nicht hinreichend beworben ist. Die Zeitschrift hat Bestand, wenn es gelingt, eine qualifizierte Konsumentengruppe derart zu binden, daß ihre Be-werbung für Teile der Wirtschaft hinreichend interessant wird, um der Zeitschrift durch Anzeigen jene finanziellen Grundlagen zu verschaffen, die in der Regel durch den vom Leser erlösten Verkaufspreis nicht mehr gegeben ist. Zu diesen Anzeigen wird ein auf die entsprechende Konsumentengruppe gerichtetes redaktionelles Umfeld geschaffen.
[...] Deshalb ist Pressefreiheit im eigentlichen Sinn die Freiheit des eingerichteten Gewerbebetriebes, mit Hilfe eines redaktionellen Umfeldes eine Leserschaft so zu optimieren, daß sie sich in ihrer Struktur für die Werbebedürftigkeit jeweils bestimmter Industriezweige qualifiziert.[...]
Für das wichtigste Medium des modernen Industriezeitalters, für das Fernsehen, haben jetzt US-Kommunikationsforscher wie Owen und andere formuliert: „Der erste und schwerwiegende Fehler, der in einer Analyse des Wirtschaftsbereichs Fernsehen gemacht werden kann, ist, daß der Wissenschaftler davon ausgeht, die Wirtschaftstätigkeit Fernsehen bestünde darin, Programme zu produzieren. Das ist falsch. Die Wirtschaftstätigkeit kommerzieller Fernsehstationen besteht darin, Zuschauerschaften zu produzieren. Diese Zuschauerschaften, oder besser gesagt der Zutritt zu ihnen, werden an die werbungtreibende Wirtschaft verkauft.“ [...]
Weiß hier jemand, wer wann die Servicewelle, den Musikteppich mit Verkehrsdurchsagen, erfunden hat? Keiner? Keine? Das sollte man aber wissen. Es war Adolf Hitler, in seinen berühmten „Tischgesprächen“. Dort sagt er 1942 nach der Wiedergabe Henry Pickers: „Es sollte daher ja kein Lehrer daherkommen und plötzlich den Schulzwang für die unterworfenen Völker verkünden wollen, Kenntnisse der Russen, Ukrainer, Kirgisen und so weiter im Lesen und Schreiben könnten uns nur schaden. Denn sie ermöglichten es helleren Köpfen, sich ein gewisses Geschichtswissen zu erarbeiten und damit zu politischen Gedankengängen zu kommen, die irgendwie immer ihre Spitze gegen uns haben müßten. Es sei viel besser, in jedem Dorf einen Radiolautsprecher aufzustellen, um den Menschen auf diese Weise Neuigkeiten zu erzählen und Unterhaltungsstoff zu bieten, als sie zur selbständigen Erlangung politischer, wissenschaftlicher und so weiter Erkenntnise zu befähigen. Man sollte es sich daher auch ja nicht einfallen lassen, den unterworfenen Völkern im Radio Dinge über ihre Vorgeschichte zu erzählen, man müsse ihnen vielmehr durch den Rundfunk Musik und noch einmal Musik vermitteln. [...] Das einzige, was in den besetzten russischen Gebieten organisiert werden müsse, sei der Verkehr. [...] Man müsse ihnen zwar Schulen geben, für die sie bezahlen müßten, wenn sie hineingingen. Man dürfe sie in ihnen aber nicht mehr lernen lassen als höchstens die Bedeutung der Verkehrszeichen.“
Das alles sind Leitlinien, wie sie inbesondere bei der Gestaltung der modernen Service-Wellen-Musik mit Verkehrsdurchsagen, Mini- Neuigkeiten und Werbung weitgehend Anerkennung gefunden haben, wobei zu beachten ist, daß die moderne Servicewelle sich jedoch ganz wesentlich von Hitlers Konzept unterscheidet, indem sie das entpolitisierte Musik-Fließband nicht als Rezept zur Beherrschung fremder Kolonialvölker, sondern als Einsicht zur besseren Gestaltung des eigenen Lebens und zur inneren Kolonisation akzeptiert wird.
Die Verleger, die Rundfunk- und Fernsehstationen betreiben, können mit Hilfe von US-Konservenmusik und Serienfilmen weitgehend ohne Journalisten auskommen. Nicht so die Verleger von Zeitungen und Zeitschriften. Sie können nun einmal ihren Anzeigenraum nicht ohne ein immer wieder neu gestaltetes redaktionelles Umfeld verkaufen. Sie sind auf uns angewiesen. Ohne Journalisten können sie nicht reich werden und reich bleiben. Und das ist unsere Chance, unsere Vorstellung von Pressefreiheit doch noch durchzusetzen.
Was wir leisten — und auch, was wir nicht leisten dürfen —, das wissen wir. Wie aber steht es mit unseren Verlegern? Wo sind sie denn, und was leisten sie — unsere großen deutschen Verleger? [...]
Nehmen wir das vaterlose Haus Springer. Da ist in den letzten zehn Jahren nichts geschehen, außer dem einen, daß sie die ohnedies verkaufte 'Bild‘-Leserschaft für spezielle Bedürfnisse noch mal diversifizierten zu 'Auto-Bild‘, 'Bild der Frau‘ und zu 'Baby-Bild‘ — nein, hier habe ich etwas durcheinandergebracht, Kinderporno — das ist ein Produkt von Springers „Lübecker Nachrichten“- Verlag.
[...] Nehmen wir den einflußreichsten und bedeutendsten deutschen Zeitschriftenkonzern, das Haus Gruner + Jahr und dessen Vorstandsvorsitzenden Schulte-Hillen. Aus seinem Vorgänger Fischer wurde wenigstens noch ein Waffen- Fabrikant. Aber Schulte-Hillen [...], was ist die einzige Leistung, die er vollbracht hat? Es sind die Hitler-Tagebücher. Die waren zwar sehr innovativ, und alle Journalisten, die damit zu tun hatten, mußten den 'Stern‘ verlassen, nur Schulte-Hillen als Hauptverantwortlicher dafür, daß die Tagebücher an der Redaktion vorbei ins Verlagshaus geschleust wurden, er blieb, und sein ganzes verlegerisches Sinnen und Trachten geht — etwas anderes ist nicht zu bemerken — darauf, doch noch die echten Hitler-Tagebücher zu bekommen. Jedenfalls sagte er mir auf der Pressekonferenz nach dem Reinfall mit den falschen: Ja, wenn es doch noch echte gäbe, die würde er — auch jetzt noch — sofort drucken. Aber dieses Warten auf Hitler — und als Hobby das Kaputtmachen des 'Stern‘, das kann doch nicht der Sinn eines Verlegerlebens sein.
Nun das Haus Burda, das hat dank seiner Kooperation mit den Spezialisten des katholischen Sebaldus-Verlags — dessen Kapital kommt von der Kirche —, dank dieser Zusammenarbeit hat Burda die größten Schweineblätter des neuen großen Deutschland auf die Beine gestellt: 'Super‘, 'Super Illu‘ und 'Super-TV‘.
Bleibt noch das Haus Bauer. Die bringen zwar immer mal wieder eine neue Zeitschrift heraus, aber das ist immer nur — unter neuem Titel — ein Abklatsch der alten Produkte. [...]
Aber etwas haben unsere großen Verlagskonzerne doch vollbracht: Sie haben sich von der größten Plünderungsmaschinerie, die es je auf deutschem Boden gab, von der Treuhand, die großen SED-Bezirkszeitungen als Beuteanteil für unseren Endsieg im Zweiten Weltkrieg zuteilen lassen. [...]
Wir, die Journalisten der Bundesrepublik, verhalten uns zu unseren Verlegern wie der liebe Gott — der wir nicht sind — zu seinen gefiederten Geschöpfen. Sie leisten nichts, sie tun nichts — und wir ernähren sie doch.
Gekürzt abgedruckte Rede vor dem JournalistInnentag der IG Medien am 1. Dezember in Mainz
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