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»Stickevoll« bis »stinkevoll«

■ Die Leute wollen lesen!/ Doch in den Bibliotheken kann das Lesen kaum noch Spaß machen

Eins haben die Berliner Bibliotheken — neben dem harten Schnitt 30prozentiger Kürzungen der öffentlichen Etats — gemein: sie sind »stickevoll« — wie Ulrich Naumann, Leiter der FU-Bibliothek, und Siegfried Detemple, Öffentlichkeitsreferent der neuen »Staatsbibliothek zu Berlin — Preußischer Kulturbesitz« sich ausdrücken.

Die Leute wollen lesen! In der Bibliothek der RomanistInnen an der Freien Universität (FU) sitzen die Studierenden in Spitzenzeiten bereits auf dem Boden und exzerpieren. In der Staatsbibliothek sind alle 700 Lesesaalplätze belegt. Und die Bibliothekarinnen in der Amerika-Gedenk-Bibliothek fühlen sich wie »Krisenmanagerinnen an den Pulten«. Die FU-Bibliothek der JuristInnen kann man nur noch als »stinkevoll« bezeichnen: Dort riecht es bisweilen streng, wenn Hunderte von Studiosi über den Gesetzen brüten.

Derweil hat der Nachschub an neuem Lesestoff vor allem an den Unis schwer nachgelassen. Nicht nur im Lesesaal des Romanistischen Institutes ist die Pinnwand für »Neuerwerbungen« kahl. Das »Wunschbuch« wurde vor einem Jahr geschlossen, ebenso wie das der Universitätsbibliothek der FU. Sie konnte nur noch zehn Prozent an »freien Erwerbungen« tätigen. Die Folge davon ist, so Ulrich Naumann, »daß die Qualität der Universität im Wettbewerb mit anderen Städten leidet.«

Leere Regale gähnen in der Lehrbuchsammlung die Studis an, wenn bei Jura, Medizin und Wirtschaftswissenschaft die ersten Vorlesungen des Grundstudiums gelaufen sind. Die Standardwerke zum Büffeln — weg sind sie.

Bei den PolitologInnen am Otto- Suhr-Institut (Osi) kann eigentlich gar nicht mehr in Büchern studiert werden. Das Osi hat zwar einen beachtlichen Fundus von 350.000 Bänden, und es sind 2.700 Zeitschriftentitel nachgewiesen. Bestellen kann man sie freilich nur, wenn jemand da ist. Das ist zwischen neun und 16.30Uhr der Fall, donnerstags und freitags schließt der Lesesaal um drei. Die Öffnungszeiten sind »drastisch schlecht«, weiß der kommissarische Leiter der Bibliothek, Sigolf Axmann, selbst.

Aber seit 1984 seien 30 Prozent der Personals verlorengegangen. Vor allem jenes, »das das Buch über die Theke reicht«. Ab Montag soll die Bibliothek wieder bis 19 Uhr geöffnet sein. Dank einer Idee Axmanns und dank der PolitologiestudentInnen, die ihr Pflichtpraktikum mittlerweile im Bibliotheks- und Informationssystem des eigenen Hauses abliefern.

Trotz der Überfüllung der Berliner Lesehallen gibt es Nischen, nicht selten wahre Schmuckstücke. Die Berlin-Abteilung der AGB zum Beispiel, wo wenige den Weg hinfinden. Der Berliner Senat hat eine schöne Buchsammlung. Und die Bibliothek der ErziehungswissenschaftlerInnen an der FU natürlich: Dort plätschert ein Brünnlein, allerlei Grünzeug rankt sich, das Lesen wird zum Vergnügen.

Vergleichweise ruhig geht es im Berliner Osten zu. Im Lesesaal der Humboldt-Universität, obwohl gerade so groß wie die Märchenbibliothek mancher Heimvolkshochschule, studieren eine Handvoll Menschen. In dem Dutzend Regale scheint das Wissen der Welt noch überschaubar. Ein Blick fängt die Handbücher von Medizin bis Germanistik ein. Wenig hat sich verändert. Der Erwerbungsetat (vier Millionen Mark für Neuanschaffungen, fünf zum Aufholen) hat sich in einer neuen Lehrbuchsammlung mit spartanischen Öffnungszeiten niedergeschlagen und hilft, die Teilbibliotheken bei Humboldts zu bereichern.

Im gleichen Gebäude, Eingang »Unter den Linden«, residiert seit 1914 die »Deutsche Staatsbibliothek« (DSB). Damals hieß sie freilich anders und auch heute ist's nicht mehr richtig. »Staatsbibliothek zu Berlin — Preußischer Kulturbesitz« (Stabi), heißt sie nun: die Bibliothek in zwei Häusern. Das Konzept (leider nur noch bis heute in der Stabi Unter den Linden im Rahmen einer informativen Ausstellung zu sehen) kann die Vorzüge beider Häuser zur Geltung bringen. An der Potsdamer Straße eine Ausleih- und Informationsbibliothek, die die Bestände ab 1956 als große wisenschaftliche Sammlung jedermensch zugänglich machen soll. Unter den Linden eine Präsenz- und Forschungsbibliothek mit Papierenem bis Jahrgang 1955. Insgesamt hat die Bibliothek knapp zehn Millionen Bände und ist die größte wissenschaftliche in Deutschland. Nun müssen die Bestände »ineinandersortiert« werden, meint Siegfried Detemple, Öffentlichkeitsreferent der Stabi.

Dazu muß umgebaut werden, und zwar Unter den Linden. 1945 zerstörte eine Luftmine den Kuppellesesaal. Das ehemalige Prunkstück ist als Narbe bis heute erhalten. Aus dem Zeitschriftenlesessal blickt man in eine Baugrube und auf einen häßlichen Magazinturm in Plattenbauweise. Auch der Rest der Bausubstanz ist marode, wenngleich es antik und anheimelnd zugeht. Im Lesesaal für Naturwissenschaften und Medizin stehen noch die schweren alten Tische. In der Mitte, aus Messing, eine Halterung fürs Tintenfäßchen und eine Stiftablage. Vorne blickt Alexander von Humboldt in Öl beinahe so streng wie die Aufsicht.

Den Buchbindern geht es schlecht, weil die Uni-Bibliotheken inzwischen auch ihren Zeitschriftenetat gekürzt haben. Auf die Kleinbetriebe mit fünf bis zehn Beschäftigten »schlägt das voll durch«, kritisiert Siegfried Herrmann, Geschäftsleiter einer Bibliotheksbuchbinderei. Wie sagte doch die Studentin an der Pforte der germanistischen Bibliothek: »Wenn man die Zeitschriften abbestellt, kann man die Bibliotheken gleich abbrennen.« Christian Füller

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