: Im Stehen fließen die Gedanken
■ Stehpulte sind wieder im Trend/ Die körperliche Beweglichkeit wird mit geistiger Dynamik gleichgesetzt/ Kundschaft: das betuchte Management
Berlin. Johann Wolfgang Goethe bevorzugte Stehpulte, und auch Ernest Hemingway liebte es, seine Schreibmaschine auf eine Ablage zu stellen und im Stehen zu tippen. Was diese berühmten Zeitgenossen wohl eher aus Gründen der dichterischen Inspiration pflegten, ist seit einiger Zeit in deutschen Büros zum Trend geworden. »Seit ein bis eineinhalb Jahren verzeichnen wir eine verstärkte Nachfrage«, so Jürgen Wobetzky, Geschäftsführer der Kurt Boecker GmbH, eines der größten Büroeinrichtungsunternehmen in Berlin. Hauptsächlich kommen die Kunden aus den oberen Etagen — vom Abteilungsleiter bis zum mittleren Management. Denn ein Stehpult ist nicht billig. Zwischen 1.200 bis zu 4.000 Mark kann man heute dafür hinblättern.
Vor allem gesundheitliche Überlegungen spielen beim Kauf eine Rolle, so Wobetzky: »Kein Mensch in einer gehobenen Position kann heute ununterbrochen zehn bis zwölf Stunden an einem Tisch sitzen.« Daher stellen viele ihr Telefon oder ihren Laptop auf ein solches Gestell, um sich im monotonen Büroalltag körperliche Abwechslung zu verschaffen.
Ob die Arbeit an Stehpulten für jedermann geeignet ist, »sollte der persönlichen Empfindung überlassen bleiben«, wie Georg Weiß, stellvertretender Leiter des Landesinstituts für Arbeitsmedizin, erklärt. Für Menschen mit niedrigem Blutdruck, mit Schäden am Skelettsystem oder Krampfaderbildung sei stehende Arbeit nicht zu empfehlen.
Neben dem gesundheitlichen Aspekt verbindet sich mit dem Stehpult auch die Vorstellung eines bestimmten Images, wie Heinrich Müller, Innenarchitekt beim Einrichtungshaus DEHA, meint: »Die körperliche Beweglichkeit wird gleichgesetzt mit geistiger Beweglichkeit.« Außerdem sei das Stehpult auch eine Reaktion auf die veränderten Arbeitsbedingungen der Büros, in denen der Steharbeitsplatz an Bedeutung gewinne. In vielen Büros werden schon an Stehtischen kurze Konferenzen abgehalten.
Daß Stehpulte gerade in letzter Zeit wieder modern geworden sind, führt der Berliner Designtheoretiker Christian Borngräber darauf zurück, daß »lange vernachlässigte Themen irgendwann wieder auftauchen«. Tatsächlich waren die an strenge Schulmeister und Kontoristen erinnernden Stehpulte lange Zeit in Vergessenheit geraten. In den 50er und 60er Jahren orientierten sich die Möbeldesigner eher an den allgemeinen Bedürfnissen, wurde der Schwerpunkt auf Stühle, Sessel, Tische und Betten gelegt, wie Hans-Peter Jochum von der Galerie Extra meint.
Eine der wenigen Ausnahmen war das 1964 von George Nelson entwickelte »Nelson Desk« oder auch »Action Office«, das von der Firma Herman Miller vertrieben wurde. Es war, so Borngräber, ein »sensationeller Entwurf«. Das aluverchromte Gestell, nur in sehr geringer Stückzahl produziert, war mit einem Rolladen und einem Aktenkanal für Hängeregister ausgerüstet.
Die eigentliche Wiege der Pulte war das Mittelalter, wie Sigfried Giedion in seinem Standardwerk Die Herrschaft der Mechanisierung 1948 feststellte. Vor allem die Handwerker des fünfzehnten Jahrhunderts widmeten sich der Entwicklung und Verbesserung von Schreib- und Lesepulten. Gerade ihre von Anfang an geneigte Fläche, so Giedion, entspreche der Haltung des Kopfes beim Schreiben oder Lesen viel besser als die heute gängigen flachen Tische. Sie kamen im 18. Jahrhundert auf, als es Mode war, große Kupferstiche auszubreiten, die viel Platz benötigten. Severin Weiland
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