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Eine Art Rolle rückwärts

■ Stuart Schneiderman, New Yorker Häretiker aus der Schule Jacques Lacans

Die Psychoanalyse, selbst Stiefkind der respektablen Wissenschaften, hat in dem kurzen Jahrhundert ihrer Existenz auch noch ein Enfant terrible ihrer eigenen Zunft gezeugt: den französischen Analytiker Jacques Lacan (1901 bis 1981). In seinen Seminaren an der Ecole freudienne saßen berühmte Vertreter moderner französischer Theorie: Baudrillard, Barthes, Derrida, Lefèbvre-Pontalis, O.Mannoni und andere. Lacans analytische Praxis bescherte ihm die Exkommunikation aus der IPA (International Psychanalysis Association) und sein dramatisch rüdes Auftreten eine solche Popularität, daß er Frankreich sogar vom Bildschirm aus beglücken durfte. Eine ungewöhnliche Karriere in einer Profession, die sich gemeinhin eher dem Rampenlicht entzieht. Der Mann war ein Skandal. Und wenn er es mal nicht war, hat er sich beeilt, einen zu inszenieren.

Stuart Schneiderman, der einzige Amerikaner, der sich einer Analyse bei Lacan unterzog und auch den Selektionsprozeß überstand, mit dem man seinerzeit von der Horizontale auf der Couch zur Vertikale dahinter avancierte, hat seinen Lehrer 1983 noch als intellektuellen Helden gefeiert (Jacques Lacan: The Death of an Intellectual Hero). Damals war Lacan erst zwei Jahre tot und die Phalanx seiner Jünger noch fest geschlossen. Und von diesen gibt es eine ganze Menge: In Südamerika füllt das Reizwort „Lacan“ ganze Hörsäle, in Paris steht nach wie vor ein großer Kreis hinter dem Meister, und auch in Berlin bemüht sich die „Psychoanalytische Assoziation“, dem Namen des Vaters alle Ehre zu machen. Was zu Lebzeiten Lacans noch theoretische Arbeit war, gleicht heute eher einem Priesterseminar, in dem Lacanianer eine reine Lehre verkünden.

Stuart Schneiderman gehört allerdings nicht mehr zur Kategorie der Gläubigen. In seiner Wohnung steht mir ein eleganter Herr gegenüber, Ende vierzig und mit skeptischem Blick, dessen graumeliertes Haar mit Gel nach hinten gekämmt ist und dessen schmale Gestalt fast verloren wirkt vor der staubfreien Kulisse der New Yorker Skyline. Auch seine Rhetorik erinnert weniger an den verquasten Stil der Jünger Lacans als an die geschliffenen Dialoge von Woody Allen. Es fehlt ihnen nur die verzweifelte Hilflosigkeit gegenüber den unlösbaren Problemen des Lebens: Stadt ja, Neurotiker nein. Schneiderman benutzt das Konzept der Komödie, nicht um sich über die Unmöglichkeit eines richtigen Lebens im falschen hinwegzutrösten, sondern um der alltäglichen Depression seiner Patienten ihre Schwere zu nehmen. Er ist Amerikaner: Probleme sind dazu da, gelöst zu werden, auch solche, die in der Psychoanalyse auftauchen. Sein Kriterium ist die Effizienz.

Lacanianer nennt sich dieser ehemalige Patient und Schüler fast nur noch, weil andere ihn so nennen. Seinen früheren Mitstreitern wirft er vor, immer von der Frage besessen zu bleiben, ob Lacan sie liebe, und in Paris sind seine Bücher daher auf den Index der verbotenen Schriften gesetzt.

Ich wollte die Gelegenheit nutzen, um herauszufinden, wie es sich für einen Lacanianer in einem Land lebt, dessen psychoanalytische Ansätze, vertreten durch Heinz Kohut oder Alice Miller, Lacan heftiger bekämpft hat als alles andere. Es ging und geht dabei um die Analyse des Selbst; ein Verfahren, das sich bei depressiven Störungen darum bemüht, das geschwächte Ich des Patienten zu stärken: für Lacan reines Teufelszeug. Er sah im Ich nur eine fiktive Konstruktion, notwendig zwar, um Sprache und Reflektion überhaupt möglich zu machen, aber fatal, sobald es zu sehr gestärkt wird und so die Instanz des Unbewußten beherrscht. Man denke an jenen Psychologiestundenten, der die Geschichte seiner Probleme so endlos sezieren kann, daß er sich in dieser Fiktion seiner Identität einschließt wie in einem Kerker. Die Theorie Lacans von der Gefahr des Imaginären zielt genau darauf: In einem Zeitalter, das von telegenen Bildern und Spiegelbildern überschwemmt wird, ist es nur allzu verführerisch, sich ein Bild vom eigenen Selbst zu zimmern, das man in der Folge mit dem Subjekt seines Begehrens verwechselt.

Eine geschlossene Identität muß daher aufgelöst werden, um erlöst zu sein. Diesem Prinzip verdanken die Schriften Lacans ihren Mangel an Konsistenz, ihren Witz und ihre Unlesbarkeit. Ihm ist aber auch eine Praxis geschuldet, in der PatientInnen nach fünf Minuten wieder vor die Tür gesetzt wurden, wenn sie statt freier — und das heißt unzusammenhängender — Assoziationen ein gut gefügtes Bild ihrer selbst zu präsentieren wagten. Es geht das Gerücht, der Meister hätte mit seiner gnadenlosen Technik nicht wenige seiner Opfer in die Psychose getrieben.

Nachdem die erste Tasse Tee geleert ist, hat Schneiderman genug über meine eigene Person erfahren, um mir zu erlauben, das Tonband anzustellen. Bei der zweiten Tasse hebt er dann zur Kritik an: Die französische Analyse erkläre das Begehren zum Fetisch und therapiere dabei nicht nur an den Bedürfnissen depressiver Patienten vorbei, sondern bevorzuge auch eine Praxis, die mit dem Mittel der Demütigung arbeitet: die Struktur sado-masochistischer Erotik vom Bett auf die Couch übertragen. „Mitgefühl und Takt sind Fremdwörter für mich“, soll Lacan einmal von sich gesagt haben. In den Augen seines ehemaligen Schülers hat er sich damit selbst diskreditiert.

In einer Art Rolle rückwärts stellt Schneiderman dann dem Lacanschen Subjektkonzept ein anderes gegenüber, in dem neben dem Unbewußten und dem Ich eine dritte Ebene eingezogen ist: das Subjekt der Achtung und Selbstachtung. Es soll nicht „self“ heißen, wie bei Kohut oder Khan, aber doch Ähnliches meinen, denn in Amerika ginge es schließlich weniger um den Sex als um die Persönlichkeit. Hier will man etwas leisten und respektiert sein. Er, Schneiderman, müsse sich nach den Wünschen seiner Patienten richten. Vieles aus der Pariser Zeit verträte er zwar auch heute noch, aber er sei flexibel geworden. Sogar die heilige Institution der Couch würde er ab und zu durch ein Face-to-face-Gespräch ersetzen: Therapie statt Analyse.

Schneiderman macht große Konzessionen an den amerikanischen Therapiekonsumenten, hat aber Lacan vom Sockel der Anbetung heruntergeholt und macht dessen Theorie so wieder diskutabel. Und auch der Leitsatz „im Zweifel für den Patienten“ ist ein Anspruch, den Dogmatiker allzu schnell aus den Augen verlieren. Schneidermans theoretischer Ansatz überzeugt zwar nur bedingt, aber seine Kritik an Lacans analytischer Praxis ist legitim. Denn selbst die fatalste Fixierung eines Patienten auf sein eigenes Selbstbild darf es einem Analytiker nicht erlauben, mit brutaler Kränkung zu antworten. Schneidermans Versuch statt einer Tragödie des Machtkampfes auf der Couch eine Komödie zu inszenieren, in der die Distanz zum eigenen Bild durch Gelächter erzeugt wird, könnte hier eine Möglichkeit sein. Die Methode hängt zwar, wie alles in der Analyse, von der persönlichen Fähigkeit des Analytikers ab, aber sie läßt dem Patienten seine Selbstachtung, ohne die theoretischen Grundlagen Lacans völlig aufzugeben. Wie auch immer man diesen Ansatz bewerten will, er ist zumindest ein Schritt heraus aus der sonst üblichen kritiklosen Übernahme Lacanscher Ideen. Es steht daher zu hoffen, daß auch dieser Anstoß aus Amerika irgendwann den alten Kontinenten erreicht. Stephanie Castendyk

Stuart Schneiderman veröffentlichte: Jacques Lacan: The Death of an Intellectual Hero , Harvard Univ. Press 1983; Returning to Freud. Clinical Psychoanalysis in the School of Lacan. Essays , Yale Univ. Press 1980; Rat Man. New York Univ. Press; An Angel Passes. How the sexes became undivided, New York Univ. Press 1988; Und demnächst: Saving Face .

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