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Souhila ist tot. Eine Familie nimmt Abschied: von einem kurzen algerischen Leben, von zerstörten Hoffnungen und einer gestohlenen Zukunft. Was bleibt? „Wir haben Blei im Herzen.“ ■ AUS ANNABA OLIVER FAHRNI
Die Croque-morts haben eine flache Grube ausgehoben, einen Fuß tief. Souhila, 45, ist um viertel Sechs in der Früh gestorben, im Spital von Annaba, das ihre heilbare Blutkrankheit zur Leukämie mutieren ließ, mangels Medikamenten und mangels Ersatzteilen für das Therapiegerät. Sie war es müde, Souhila die Ungebändigte, Souhila die Revolutionsheldin und „Hadscha“ (Mekkapilgerin), Souhila, die unerbittliche Herrscherin über neun Kinder und ihren Mann El Hadsch Ahmed. In den letzten Tagen hat sie das Haus bestellt, die Kinder nach Annaba gerufen und den Tod gesucht.
Auf dem islamischen Friedhof weiden Esel und Ziegen. Kheira, die Älteste, Juristin in Paris, sitzt im Flugzeug, Hakima, die kleine Schwester, kämpft in Orly noch um einen Platz in der nächsten Maschine, als ihre Mutter in die feuchte Erde gelegt wird. Gewaltiges Wehklagen hebt an, Tanten und Schwestern schreien ihren Schmerz, gehen Souhila ans letzte Gewand, Ahmed liest Koransuren, bricht in einem langen, waidwunden Schrei ab. Allah- u-akbar. Die Trauer geht 40 Tage, dann wird über den Erdhügel ein flaches Behältnis gemauert. „Sie ist nicht hier“, wird Kheira sagen und die Mutter um Verzeihung bitten für ihre Verspätung und auf den jungen Mann in ihrer Begleitung deuten: „Mama, das hier ist Soulayman, mein Verlobter.“ Und die linke Feministin wird eine Fatiha beten, die erste Sure des Korans. „Ich möchte wissen, wer ich bin. Vielleicht hilft mir ihr Tod. Warum leben wir nicht hier?“ Zwei Wochen später bucht Maitre Kheira G. den Morgenflug nach Paris.
El Hadsch Ahmed erwartet den Fremden auf der Treppe zum Trauerhaus, hoch über der Bucht von Annaba. Sie läuft in weichem Schwung aus den Hügeln, in deren Maquis sich die französischen Kolonialisten verhedderten. Annaba, die Mediterrane, ist wärmer als Algier, heißblütig und in unermüdlicher Revolte, eine üppige Stadt, älter als Karthago, römische Thermen, Geburtsort des Hl. Augustinus (auch er ein Beur).
Überall Häuserskelette, einviertelfertig, plus-minus; wenn in der Emigration etwas Geld verdient und schwarz gewechselt ist, wird eine Etage draufgesetzt, so Gott und die Zementverkäufer wollen. Auf dem Cours de la Révolution flanieren die Männer, auch ein paar Frauen, mit beschleunigtem Schritt die Zufälligkeit ihrer Präsenz vortäuschend, die Intellektuellen verteilen vorm „Ours Polaire“ („Eisbär“) schon mal die IWF-Millionen, von denen sie keinen Dinar sehen werden. Mancher trägt an Körper und Seele die Verstümmelungen des Oktober 1988, als die Armee einen Aufstand im ganzen Land blutig niederschlug und dabei 1.000 Menschen zu Tode brachte.
Es ist Wahlkampf, die ersten freien Parlamentswahlen der algerischen Geschichte. Ein paar Plakate, aber kaum Wahlfieber. Es liegt eine merkwürdige, scharfkantige Ruhe über der Stadt. Fin de règne. Alle wollen den Wechsel, aber alle denken, daß Armee und Nationale Befreiungsfront ihre Macht nicht abtreten werden. Die AlgerierInnen sind mit Überleben beschäftigt. Das Land liegt im Würgegriff der Weltbank. „Wir haben Blei im Herzen“, sagt Mourad, an eine Mauer gelehnt. 65 Prozent sind wie Mourad: Unter 26 und kaum Aussichten auf einen Job, eine Wohnung, eine Frau, eine menschenwürdige Existenz. Selbstironisch nennen sie sich „Hitistes“, Mauerstützer. „Die Algerier“, schreibt die linksliberale Wochenzeitung 'Algérie-Actualité‘, „scheinen sich damit abgefunden zu haben, daß die Zukunft dieses Landes ohne sie gemacht wird, und sie sind offenbar entschlossen, sich nicht das kleinste Lächeln abringen zu lassen.“ Der Mann, der das Blatt verkauft, ausgenommen: siegessicher blickt er aus dem Kiosk. Er ist der lokale Chef der Islamischen Heilsfront (FIS). Seit den Gemeindewahlen 1990 ist Annaba eine FIS-Stadt, wie alle größeren Gemeinden des Landes. Souhila, die alte FLN-Kämpin, hatte damals die Wahlkarten der ganzen Familie eingesammelt und für die Radikal-Islamisten eingelegt.
El Hadsch ist ein schöner, würdevoller Mann, von der Diabetes gezeichnet. Er umarmt und küßt den Reisenden und führt ihn am Arm zu einer reich gedeckten Tafel. Sohn Abdelkadr, der Ingenieur, hat stundenlang auf dem Markt gedealt, manches ist nur noch auf dem Schwarzmarkt zu haben, und seit dem Frühjahr haben sich die Preise verdreifacht. Bis zum Juni hatten die Islamisten drunten in der alten Markthalle wohlfeiles Gemüse und Fleisch auf einem islamischen Markt dargeboten. Doch dann warf das Regime die ganze FIS-Führung unter Mohamed Abassi Madani in den Kerker und mit ihr 8.000 Militante der FIS, und der freundliche Markt ging nicht mehr auf.
Über zwölf Tage wird das Haus voll sein von Menschen, die sich von Souhila erzählen. Souhilas Revolte. Wie sie mit 16 in die Guerilla ging. Sie stammte aus einer alten, reichen Bauernfamilie. Ein Kolonialarzt spritzte ihrer Mutter Luft in die Venen, weil sie ihm nicht gefügig war. „Du wartest zu Hause“, hatte er Souhilas Vater gesagt. Der tötete den Arzt. Die Franzosen brachen ihm unter der Folter das Kreuz. Souhilas unglückliche Liebe. Der Bräutigam war in der französischen Armee verpflichtet. Vater stellte ein Ultimatum: Fahnenflucht und Heirat oder nichts. Dem Soldaten fehlte die Courage. Als darauf ein „Colon“ zudringlich wurde, ging Souhila über Nacht weg. Nach zwei Tagesmärschen war sie zum Maquis gestoßen. Souhilas Kämpfe. „Sie war eine große Kriegerin“, sagt El Hadsch und zeigt den schweren französischen Karabiner vor, den sie trug. „Ich habe um sie herum die große Leere gemacht, kein Mann kam ihr nahe.“ Souhila führte die Guerilla nächtens durch die „Ligne Maurice“, Minen- und Elektrozäune, die den Widerstand vom Nachschub abschneiden sollte. Die „Ligne Maurice“ galt als undurchdringlich. Manchmal mußte Souhila die Männer mit Kolbenschlägen durch den Stacheldraht treiben.
Ahmed grinst, kramt Fotos hervor. Kommandant Ahmed, der Schrecken der Franzosen. Kommandant Ahmed in der Klandestinität. Kommandant Ahmed als Latin Lover, Souhila mit seligem Lächeln von unten. Nach der Befreiung wird sich zwischen ihnen das traditionelle Rollenspiel einstellen. Ahmed wird sie ins Haus zwingen. Und Souhila wird sich an neun Kindern erschöpfen. Erst die Krankheit befreit sie — Listen der Ohnmacht. Und sie wird das Verhältnis zur Mutter-Herrschaft wenden.
Ahmed ist einer der raren Intellektuellen in der Guerilla. Über sechs Jahre verbirgt er, daß er lesen und schreiben kann. In der Bauernguerilla werden Schreibkundige mitunter vorsorglich an die Wand gestellt. Sein analphabetischer Vater hatte ihn zum Studium nach Paris geschickt. An der Sorbonne trifft Ahmed Roger Garaudy, den Chefdenker der französischen KP, kommt zu Marx und Atheismus. Aber die Geschichte wird eine hübsche Schlaufe schlagen: 15 Jahre später sehen sie sich wieder, in Mekka — Konvertit Garaudy ist auf Pilgerfahrt.
Es kommt Bewegung ins Trauerhaus. Bauern aus dem Süden in goldgelben Turbanen erweisen ihre Reverenz und dahinter eine Gruppe Bedürftiger aus Annaba. Ahmed hat als Präfekt die ersten Schulen, Spitäler und Bewässerungsprojekte realisiert. Er zog die euphorische Aufbauarbeit dem angebotenen Botschafterposten vor. Doch sehr schnell kam der Mudjahid unter Druck aus Algier. Um Armeespitze und FLN lagerte sich eine neue Bourgeoisie, die mit Unterschlagungen, Bestechung und Kommissionsgeldern auf den Nationalen Projekten enorme Vermögen anhäuften. Allein in den letzten zehn Jahren 26 Milliarden Dollar — gleich viel wie die würgende Außenschuld. Systematisch wurden die alten Widerstandschefs ausgeschaltet.
In El Hadsch brennen alte Feuer. „Dieses Regime ist illegitim. Es hat die Zukunft Algeriens gestohlen.“ Aber da hat Ahmed sich schon wieder gezähmt, reicht Datteln. Von Lemia, der nacktfüßigen Bettlerin, erfährt er, wo die Chesterfield-Sitzgruppe, die alten Möbel, das Küchengerät, Geld und Goldschmuck abgeblieben sind. Souhila hat sie weggegeben als „Zakat“, islamische Spende, und Lemia, die Buchhalterin der Mildtätigkeit, weiß genau, wohin: Das Chesterfield an eine vom Mann verstoßene Cousine, Geld an die neuen Obdachlosen hinter der Siedlung „Bel Air“, die nur ein sadistisches Gehirn so nennen konnte, Sohn Abdelkadrs Lederjacke und alte Möbel an die Familie, die ihr Gehütt über einem Abflußrohr der Stadt errichtet hat. Darum wirkt das Trauerhaus jetzt wie ein viel zu großes Gehäuse. Der Muezzin ruft. „So soll es sein“, sagt Ahmed und zieht sich zum Gebet zurück.
La illaha illah Allah. Mohamed rasul Allah. Mein Weg vom Atheismus zum Islam, sagt er, ist erst mal meine ganz persönliche identitäre Suche. Mit Ben Badis, dem großen Reformer, denke ich: Arabisch ist meine Sprache, der Islam meine Religion, Algerien mein Land. Das ist nicht so selbstverständlich, wie es tönt, nach 400 Jahren Türkenherrschaft, 132 Jahren französischem Kolonialismus und 30 Jahren tastender Suche nach einem eigenen Weg. Aber, denkt er, da ist mehr: Das westliche Zivilisations- und Entwicklungsmodell ist im Konkurs. Die Dritte Welt wird ärmer. Der Kapitalismus zerstört die Welt. Und jetzt hat der Okzident auch noch seine innere Reformkraft, den Marxismus abgewürgt. Wir verfügen über ein eigenes, operationelles Konzept, das die moralische Frage nicht von der weltlichen trennt, oder, wie ihr sagt: die Religion nicht von der Politik. Dieses Konzept ist unverbraucht, es enthält eine Zukunftsvision und sucht den sozialen Ausgleich. Es bringt meinen Alltag und meine Suche nach einem Stückchen Glück in Einklang. Der politische Islam, sagt er in seinem exquisiten Französisch, ist kein Rückfall ins Mittelalter, sondern unser Zugriff auf die Gegenwart. Für die FIS mochte er nicht stimmen, eine alte „Inkompatibilität“. Moralische Rigoristen ärgern ihn. Aber er hält sie für Randphänomene. Die Islamische Republik schreckt Ahmed nicht. Algerien wird einen anderen Weg gehen als der Iran oder der Sudan.
Über dem Monolog ist die Nacht gefallen. Die vier Töchter haben ein paar Matratzen ausgelegt, liegen Arm in Arm, rauchen die „taxfree“- Marlboros. Hakima, die Ökonomin, möchte sterben, um ihre Mutter wiederzusehen. Kheira hat von einer Frau geträumt, die sie an den Haaren nach hinten in einen Abgrund reißt. Verziehen die Herrschaft von Mutter Souhila. Vergessen die verhinderte Liebesheirat von Lehrerin Louisa und das Sklavenregime, das Hakima als Schwarzarbeiterin nach Frankreich getrieben hat, ohne Papiere. Vergeben die Bevorzugung der Brüder und verdrängt Souhilas böses Wort, die Geburt der Mädchen habe sie in die Krankheit getrieben. Alle vier haben studiert, alle leben sie ihr eigenes Leben. Aber jetzt hält sie die Mutter wieder im Griff, aus dem Grab heraus.
Kheira, die heimliche Atheistin, möchte ein altes Versprechen einlösen, das sie ihrer Mutter gegeben hat: Sie bittet Souleyman, einer kleinen islamischen Hochzeitszeremonie zuzustimmen. Er stimmt zu und bittet Abdelkadr und den Besucher, einen Imam ins Haus zu holen. Auf dem Cour und vor den Parteilokalen ist ein Hauch von Betriebsamkeit entstanden. Es ist Wahlabend, und die Suche nach einem Imam gestaltet sich schwierig. Alle sind sie mit in den Wahlkomitees beschäftigt. Vorab die Befreiungsfront mobilisiert jeden Mann, um Mauscheleien der Islamisten zu verhindern. Die FIS stellt sich zur Wahl, obwohl ihre Chefs immer noch im Militärknast von Blida modern und sich die FLN das Wahlgesetz auf den Leib geschneidert hat. Vor manchen Stimmlokalen sieht der Fremde Gruppen aufgeräumter Frauen im Hidjab, die Wahlzettel der FIS in der Hand.
Schließlich findet sich ein junger Imam, Biologielehrer und Karateka (2.Dan), Radikalislamist. „Eine Vermählung ist alleweil wichtiger als eine Wahl“, sagt er und schwingt sich auf sein schweres Motorrad.
Die Männer versammeln sich im Salon. Souleyman bittet den Reisenden, sein Zeuge zu sein. Kheira hat sich einen Hidjab übergezogen und steht verdeckt, hinter einer offenen Tür. Imam Hamid spricht kurz, insistiert auf den Rechten der Frau, ihrem freien Willen, der Mitgift, der Möglichkeit des Widerrufs. Er fragt Kheira nach ihrer Zustimmung. Von der Tür her kommt ein deutliches Ja. Vater und Souleyman geben ihr Wort dazu. Et voilà. Eine warme Honigmilch mit Datteln wird gereicht, der traditionelle Schokoladenkuchen.
Kheira hat die Situation genossen. „Ich hatte alles im Blick, ohne gesehen zu werden. Ich fühlte mich mächtig.“ Niemand mag jetzt noch an die Wahlen.
Tags darauf treffen die ersten Nachrichten vom Wahlsieg der Islamisten ein. El Hadsch Ahmed rollt den Fernseher aus der Nische, in die der Kasten während der Trauerzeit verbannt ist. Die FIS hat im ersten Wahlgang schon 188 der 430 Parlamentssitze gewonnen, wird leicht die absolute Mehrheit erreichen. FLN und die „demokratischen“ Parteien sind schockiert. Die Islamisten haben praktisch keinen Wahlkampf geführt. El Hadsch freut sich. Tags drauf werden die „Demokraten“ eine erhellende Lektion in Sachen Demokratie geben und den sofortigen Abbruch der Wahlen verlangen, notfalls mit Gewalt.
Kheira, die Juristin, ist aufgewühlt. Sie bangt um ihre individuellen Freiheiten, denkt aber, daß nur die Islamisten die reichen Generäle der FLN von der Macht treiben können. El Hadsch Ahmed hört sich die Sache an. „Ab heute“, sagt er, „besteht die Gefahr, daß die Armee putscht. Sie werden erst die Wahlresultate wenden und drehen. Dann werden sie dem algerischen Volk aufs Maul schlagen und es um seine Wahl betrügen.“ Als ehemaliger Präfekt kennt er die Techniken, weiß von gedungenen Provokateuren. Jetzt stellt El Hadsch einen französischen TV-Sender ein. Hinter bemühter Objektivität lugt kaschierte Panik hervor. „Selbstmörderische Wahl“, sagt ein Kommentator, „das algerische Volk ist nicht reif für die Demokratie. Es hat nicht gewußt, was es tut.“ Und mit einem Mal hat El Hadsch Ahmed einen harten Zug um den Mund.
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